Stromausfall

Helen erwacht in ihrem Bett im Schlafzimmer, dreht den Kopf nach rechts und schaut auf die Uhr. Die roten Leuchtziffern des Radioweckers auf dem Ecktischchen zeigen die Uhrzeit:
03:22 Uhr.

Sie dreht sich nach links, tastet im Dunkeln nach dem Schalter der Nachttischlampe und drückt ihn nach unten.

Kein Licht.

Die Birne ist kaputtgegangen, denkt sie. Ich werde sie auswechseln müssen. Helen schlägt die Bettdecke zurück und schwingt beide Beine aus dem Bett. Mit nackten Füßen tappt sie zur offenen Schlafzimmertür und drückt auf den Schalter neben dem Bücherregal.

Der Strom muss ausgefallen sein, denkt sie.

Sie geht in die Diele und drückt auch dort den Lichtschalter.

Keine Reaktion.

Helen ist kein ängstlicher Mensch, aber nun fühlt sie doch einen Anflug von Angst, ein nervöses Flattern tief in ihrer Magengrube, weil die Dunkelheit, die sie umgibt, so extrem schwarz und dicht ist, schwärzer als die Nacht, schwärzer als schwarz. Helen sehnt sich nach Licht.

Warum geht das Licht nicht an? Sie tappt durch die ganze Wohnung, drückt Schalter um Schalter. Sie wohnt schon so lange hier oben unter dem Dach, dass sie sich blind zurechtfindet. Nicht der kleinste Funken Sternenlicht fällt durch die Dachfenster.

Und nicht ein einziger Lichtschalter funktioniert.

Helen öffnet leise die Korridortüre und drückt auf den Schalter im Hausflur.

Dunkel, auch hier.

Jetzt wird die Angst stärker. Helen lauscht.

Von unten, vom Keller oder vom Erdgeschoss klingt Lärm herauf, Gelächter und Gejohle, dort scheint ein wildes Saufgelage im Gange zu sein. Vorsichtig tritt Helen hinaus auf den Treppenabsatz, umfasst das Geländer und späht hinunter. Nicht die kleinste Spur eines Lichtscheines ist zu entdecken.

Das Gelächter unten wird stärker, Glas klirrt.

Jetzt spürt Helen Panik. Der Atem stockt ihr.

Mau, schreit sie in die Dunkelheit und noch einmal Mau, langgezogen, klagend, wie eine gequälte Katze.

Der Schrei prallt an die Wände ringsum. Der Schrei fährt die Treppe hinunter und kommt als vielfaches Echo zurück: Mau.

Wieder drückt Helen auf den Lichtschalter im Hausflur.

Licht, denkt sie verzweifelt, Licht ... Licht!

Etwas Schwarzes kommt die Treppe herauf. Helen sieht es nicht, sie fühlt es nur, etwas hat der Schrei angelockt. Etwas sehr Gefährliches. Sie macht zwei Schritte zurück, fort vom Treppengeländer, an das sie sich mit ihren Händen geklammert hat. Rückwärts geht sie zurück in die Wohnung und schließt schnell die Korridortüre. In der Diele drückt sie den Lichtschalter panisch auf und ab, auf und ab.

Licht.

Licht. Wo bleibt nur das Licht? Sie fürchtet sich entsetzlich, und sie friert. Kalt wie Eis ist sie auf einmal. Sie schlüpft zurück ins Bett und zieht schutzsuchend die Decke über sich.

Im gleichen Augenblick fühlt Helen den Druck der Matratze unter sich und erwacht. Sie wendet den Kopf nach rechts und schaut auf die roten Leuchtziffern des Radioweckers:
03:22 Uhr.

Sie dreht sich zur linken Seite um und tastet nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe. Ein leises Klicken, warmes orangefarbenes Licht flammt auf.

Helen steigt aus dem Bett in ihrem langen weißen Nachthemd und drückt auf den Schalter an der Türe, dicht neben dem Bücherregal. Das Deckenlicht geht an. Sie tritt durch die Schlafzimmertür und drückt auf den Lichtschalter im Flur. Strahlende Helligkeit. Helen öffnet die Korridortür einen Spalt breit. Die zwei Stockwerke unter ihr liegen im Dunkeln. Sie macht kein Licht im Hausflur. Sie lauscht. Da ist kein Gelächter, kein Gejohle, kein Klirren von Glas, kein wildes Durcheinanderschreien, kein Saufgelage, nur die atemlose Stille der Nacht und das leise gleichmäßige, vertraute Surren von Kühlaggregaten unten im Keller.

Sonst nichts.

Durch das Fenster im Treppenaufgang fällt das gedämpfte Licht der Straßenlaterne vor dem Haus. Helen tritt zurück in ihre Wohnung, schließt die Eingangstür und dreht den Schlüssel zweimal im Schloss. Sie läuft durch die Räume und knipst alle Lampen an. Licht, denkt sie erleichtert. Dann schlüpft sie zurück ins Bett. Ihr Blick klammert sich hilfesuchend an die roten Leuchtziffern des Radioweckers. Endlos lang scheint die Zeit, bis eine der Zahlen umspringt auf 03:23 Uhr.

Jede Nacht dasselbe Spiel, denkt Helen, seit sieben Jahren. Ich wohne in einem Geisterhaus. Es wird langsam Zeit auszuziehen.

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Petra Koch

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