Die Bäume im Garten des Lebens

In einem Land jenseits der Zeit, wuchs einmal ein Knabe heran. In diesem Land regierte ein weiser und gerechter König. Es herrschte Frieden zwischen den umliegenden Reichen, jedermann hatte genug zu essen und niemand litt Not.

Jahrhunderte zuvor aber war es geschehen, dass ein mächtiger und böser Zauberer versucht hatte, die Herrschaft an sich zu reißen. Er war gefangen genommen und in einen Kerker geworfen worden. Dort verbrachte er den Rest seines Lebens und als er starb, tat er dies mit einem Fluch auf den Lippen: Niemals mehr solle ein Baum wachsen im ganzen Königreich, bis ans Ende aller Tage. So geschah es. Die geschicktesten Gärtner, die klügsten Bauern und die mutigsten jungen Männer hatten seither versucht einen Baum zum Wachsen zu bringen, doch niemandem war es mehr gelungen. Sobald ein Schössling in die Erde gepflanzt wurde, begann er in kürzester Zeit zu kränkeln und zu welken und so gab es im ganzen großen Reich zwar schöne Gärten und Grünanlagen, aber keine Alleen, keinen einzigen Wald, nicht einmal den kleinsten Apfelbaum.

Eines Tages machte sich der Knabe auf den Weg zum Palast, um seinen König um eine Audienz zu bitten. Mein geliebter König, sagte er zu diesem, ich bin jetzt alt genug, die Welt außerhalb unserer Städte zu bereisen, wie es seit alters her der Väter Sitte ist. Ich möchte Unbekanntes kennen lernen und Erfahrungen sammeln, mein Herz verzehrt sich danach, Klugheit und Wissen zu erwerben und etwas zu erschaffen, das es bisher noch nie gegeben hat. Lasst mich also draußen jenseits der Grenzen deines Reiches, in jenem Wüstenland, das kein anderer beansprucht, einen Baum pflanzen, zum Wachsen bringen und seine Samen einsammeln. Vielleicht gelingt es mir auf diese Weise den Fluch des Bösen Zauberers zu brechen, da es doch seit langem keinem Angehörigen unseres Volkes mehr gelungen ist, in unserer Heimaterde einen Schössling zum Gedeihen zu bringen.

Da der König ein weiser Mann war, erforschte er die Gedanken des Knaben, die kühn und verwegen waren, er schaute in sein Herz und erfuhr seine Träume, die dieser seit undenklichen Tagen in seinem Innern trug. Der Knabe, dachte der König, wird ein guter Gärtner werden, es entspricht seiner Natur. Darum sagte er zu ihm:
Das ist ein kluger Vorschlag. Ja, du sollst Wissen erwerben, Unbekanntes kennen lernen und Erfahrungen sammeln wie es dein Wunsch ist. Du sollst dir einen eigenen Garten erschaffen, wie ihn kein anderer Mensch je zustandebringen wird. Er soll dein Eigen sein und du sollst ganz in ihm aufgehen. Dieser Garten soll zu einem Spiegelbild deines Lebens werden, deiner Träume und Ideale und seine Gestaltung soll dir mehr Weisheit bescheren als alle Bücher, die du jemals würdest lesen können. Gehe also hin, pflanze den Baum, sammle seine Samen und bringe sie am Ende deiner Reise zu mir. Gelingt dir dies und wird der Fluch für alle Zeit gebrochen sein, so will ich dich dafür reichlich belohnen. Erkenne, dass dir bei dieser schwierigen Aufgabe alles Wissen deines Volkes zur Verfügung stehen wird, wenn du nur in Deinem Inneren danach suchst. Bedenke aber, dass du lange Zeit nicht mehr zurückkehren kannst und ganz auf dich allein gestellt sein wirst.

Es macht mir nichts aus, allein zu sein, sagte der Knabe. Dein Rat, geliebter König ist weise. So will ich also fortgehen und ein Stück Land suchen in einer Gegend, die noch niemals eines anderen Menschen Fuß betreten hat und ich will mir dort einen Garten erschaffen, strahlend und schön, dass du deine Freude daran haben wirst. Ich werde einen Baum pflanzen und dir und unserem Volke damit Ehre machen.

Also zeigte ihm der König, der auch ein guter Magier war, in einer Vision das Stück Erde jenseits der Grenze, welches der Knabe fortan sein Eigen nennen durfte und übergab ihm zum Abschied ein leinenes Säckchen, gefüllt mit allerlei Samenkörnern der schönsten Blumen, die es im ganzen Königreiche gab und die dem Knaben helfen sollten, seinen eigenen Garten nach seinen Ideen zu bebauen und zu gestalten.

Der Knabe bedankte sich, schnürte sein Bündel und zog weg gegen Morgengrauen. Er verließ seine Stadt und alles was ihm bisher lieb geworden war, um das Stück Land zu suchen, das der König ihm in einer Vision gezeigt hatte.

Nach einer Weile des Reisens kam der Knabe in eine Landschaft, die jener glich, die er in der Vision gesehen hatte und er ließ sich nieder. Er beschloss eine Hütte zu bauen, darin er sich geborgen fühlen konnte vor der Unbill der Natur und fand zu seiner großen Überraschung alles was er dazu benötigte, sobald er seine Gedanken nur stark genug darauf richtete. Als die Hütte gebaut und zu seiner Zufriedenheit eingerichtet war, begann er das Land zu erforschen vom Morgen bis zum Abend, von Mittag bis Mitternacht. Es schien ihm unendlich und grenzenlos zu sein, soweit seine Schritte ihn trugen und sein Auge schauen konnte.

Beim Umherstreifen entdeckte er Dinge, die er noch niemals gesehen hatte und die wunderbar und neu für ihn waren und sein Herz und Sinn wurden mehr und mehr erfüllt mit kühnen Plänen, den Garten zu gestalten, je mehr er in seinem Land umherwanderte und doch niemals an seine Grenzen stieß. Er sammelte unbekannte Früchte und Samen, steckte sie zusammen mit jenen, die der König ihm gegeben hatte, in die Erde und bald darauf begannen aus dem kargen Erdreich die ersten Keime zu sprießen, die ersten Blumen zu wachsen. Es waren winzige bunte Gebilde, zart wie Filigran und zerbrechlich wie Glas. Viele blühten auf in der Mittagshitze und erstarben im Dunkel der Nacht und der Knabe wurde stets ein wenig traurig, wenn der Morgen kam und er sah, dass sie die Nacht nicht überlebt hatten, aber sogleich vergaß er sie und machte sich erneut ans Werk. Mit dem Bild des fertigen Gartens, das er in seinem Herzen trug und mit der ganzen gestaltenden Kraft seiner Gedanken begann er sich neue, größere, schönere Blumen zu wünschen. Denn das hatte er im Laufe der Zeit erfahren: War eine Idee stark und von Freude und Schaffensdrang erfüllt, so verwirklichte sie sich in kürzester Zeit auf eine geradezu geheimnisvolle Weise. Bald wuchsen unzählige Blumen in wunderbarer Vielfalt kraftvoll zu seiner Freude heran, einige rankten sich an den Wänden seiner Behausung empor und kletterten bis unter das Dach. Je mehr er sich am Duft ihrer Blüten erfreute, desto mehr wuchsen die Blumen und wurden groß und gediehen prächtig. Die ersten Vögel begannen unter dem Dach seiner Hütte ihre Nester zu bauen. Oft saß der Junge in der Abendsonne und spann seine Gedanken, von denen viele stark und manche selbst wie flatternde bunte Vögelchen waren und er träumte davon, was er tun würde in den vielen Tagen und Monden, bevor die Zeit kam zurückzukehren, um dem König sein vollendetes Werk zu zeigen.

Im Laufe der Jahre wurde aus dem öden wüstenhaften Landstrich, den der Knabe einst betreten, fruchtbares Land. Er begann zu säen und zu ernten und über all seinem Schaffen reifte das Bild seines Gartens in seinem Herzen zur Vollkommenheit heran. Soweit sein Auge schauen konnte, wuchsen Blumen in den schönsten Farben und Formen. Als der Garten nahezu vollendet war, erinnerte sich der Knabe an das Versprechen, das er dem König gegeben hatte. Ich will nun einen Baum pflanzen in der Mitte des Gartens, dachte er, einen Baum, der wenn er hochgewachsen ist, mir Schutz bieten soll vor den sengenden Strahlen der Sonne. Und er träumte davon, nach seinem Tagewerk heimzukommen, im Schatten des Baumes zu rasten und Frieden und Ruhe zu finden unter dem dichten Geäst seiner Zweige. Die Idee gefiel ihm. Ich werde diesen Baum auch pflanzen, um des Zauberers Fluch zu brechen und meinem Volk zu Ehren, sagte er zu sich selbst.

Und so machte er sich auf den Weg, den Schössling eines Baumes zu suchen, der ihm gefiele und er wanderte wieder umher, wie zu Anfang, als er in das Land gekommen war. In seinen Gedanken war der Baum gerade gewachsen, von schönem Äußeren und wenn der Wind durch seine Blätter fuhr, so hörte sich das an wie Engelsharfen. Doch hatte er wie alle Angehörigen seines Volkes nur eine sehr vage Vorstellung vom Aussehen eines Baumes, da ja seit Jahrhunderten niemand mehr einen ausgewachsenen Baum gesehen hatte und ein Gemälde, das einen Baum zeigte, stets nur der Phantasie des Malers Ausdruck verlieh. So kam es, dass das Bild des Baumes, das der Knabe in seinem Herzen trug, sich fortwährend wandelte, während er suchend umherstreifte. Er, der allein durch die Kraft seiner Gedanken die Idee des Gartens so vollkommen verwirklicht hatte, war unfähig, das Bild des gesuchten Baumes vor seinem inneren Auge zu visualisieren. Und so resignierte er schließlich und dachte:

Ich werde den ersten Schössling nehmen, den ich finde. Denn eigentlich weiß ich nicht so recht wie der Baum aussehen soll, den ich mir wünsche. Es dauerte nicht mehr lange und er fand im trockenen Wüstensand einen kleinen Schössling, grau und unscheinbar, ohne ein einziges Blatt und kaum eine Elle hoch. Er kniete sich nieder, lockerte das Erdreich um die zarten Wurzeln und grub ihn vorsichtig mit seinen Händen aus. Und während er das tat, sah er mit den Augen der Liebe wie dieser Winzling sich in einen wunderbaren, hochgewachsenen Baum mit tief herabhängenden Zweigen verwandeln würde und sofort hielt er das Bild fest, um es nie wieder zu vergessen.

Ich werde dich mit in meinen Garten nehmen, Bäumchen, sagte er, und dort sollst du hoch wachsen und Samen tragen. Ich will in deinem Schatten rasten und mich ausruhen von meinem Tagewerk, will unter deinen dichten Zweigen Ruhe und Frieden finden und wenn ich eines Tages zurückkehre in meine Heimat, so will ich deine Samen mitnehmen, damit dort in meiner Heimatwelt viele von Deinesgleichen wachsen werden und der Fluch des bösen Zauberers für immer gebrochen ist.

Sorgsam trug er das Bäumchen nach Hause und dort in der Mitte seines Gartens grub er ein Loch, pflanzte den zarten Schössling ein, wässerte ihn und umgab ihn, wie die Blumen, mit viel Sorgfalt und Zuneigung.

Zwei Sommer gingen vorüber und das Bäumchen war kaum kniehoch gewachsen. Seine Rinde blieb grau und rissig und seine verkrüppelten Äste bildeten keine Zweige, kein einziges knospendes Blatt. Der Fluch verfolgt mich, dachte der junge Mann, aber ich werde mich nicht entmutigen lassen. Dieser Baum wird wachsen, wie ich es mir vorstelle. Und er pflegte ihn und sprach mit ihm und tat alles was ihm in den Sinn kam, um seine Vorstellung zu verwirklichen.

Im vierten Sommer war das Bäumchen ein gutes Stück gewachsen. Es hatte ein paar kleine graue Zweige ausgetrieben, doch auch jetzt trug es noch kein einziges grünes Blatt.

Da der Knabe keine Erfahrung mit Bäumen hatte, begann er die kahlen Äste des Bäumchens zu beschneiden, um ihm eine schöne Form zu geben und weil er wünschte, dass endlich grünes Blattwerk aus den Schnittstellen sprießen möge. Ich wünsche mir Blätter, sagte er zu dem Bäumchen, dichte grüne Blätter. Warum treibst du nicht endlich aus und erfüllst mir meinen Wunsch? Doch alles Bitten war vergebens. Das Bäumchen trieb kein einziges Blatt aus, im Gegenteil. Aus den vielen Schnittstellen wuchsen nach und nach lange spitze Dornen und wenn der Knabe kam, um nach dem Bäumchen zu sehen, so schlug es nach ihm aus und verletzte ihn, indem es ihn mit diesen Dornen kratzte. Warum tust du das, fragte er das Bäumchen, ich wässere dich, ich pflege dich, ich setze alle mein Hoffnung in dich und du enttäuschst mich? Womit habe ich das verdient?

Dieser kleine widerspenstige dürre Baum stört das vollkommene Bild meines Gartens, dachte der Knabe nun immer öfter. Alles habe ich getan, was ich nur konnte und doch scheint es vergebens. Kein Vogel wird jemals ein Nest bauen in den Zweigen dieses Baumes und ich werde wohl niemals in seinem Schatten ausruhen können. Eines Tages, als das Bäumchen wieder einmal nach ihm geschlagen und ihn verletzt hatte, riss er es zornig aus und warf es am äußersten Ende seines Gartens in eine Grube. Er weinte, während er dies tat, denn es war seine erste große Niederlage.

Ich werde einen anderen Schössling suchen, dachte er nach einiger Zeit, vielleicht habe ich mit einem neuen mehr Glück.

Und ein weiteres Mal machte er sich auf den Weg, einen Schössling zu suchen. Er wanderte lange Zeit und fand schließlich einen kleinen Baum, mit einem starken Stämmchen und winzigen grünen Blättern. Sorgsam grub er ihn aus und pflanzte ihn in seinen Garten. Dieses Mal dachte er nicht daran, das neue Bäumchen zu beschneiden. Er ließ es wachsen wie es wollte und das neue Bäumchen dankte es ihm, indem es prächtig in die Höhe schoss und ein dichtes grünes Blattwerk entwickelte. Eines Morgens kam der Knabe an der Grube vorbei und sein Blick fiel auf das ausgerissene Dornenbäumchen, das ihm seine dürren Wurzeln anklagend entgegen streckte. Da befiel ihn Mitleid und er packte es und zog es heraus aus der Grube. In der Abend-dämmerung pflanzte er es erneut ein im Garten, wässerte es und dachte dabei:

Ich habe diesen neuen Baum gefunden, der all meinen Vorstellungen zu entsprechen scheint, da will ich großzügig sein und diesem kleinen dürren Ding eine Chance geben, obwohl ich fühle, dass es vergebens ist. Dennoch ist das allemal besser für ihn als ihn in der sengenden Sonne langsam sterben zu lassen. Allerdings will ich fortan keine Hoffnung mehr in ihn setzen, denn ich werde bald unter dem Blätterdach des neuen Baumes sitzen und frühmorgens den zwitschernden Vögeln zuhören können. Dieser Baum hier wird niemals Zweige haben, nur Dornen. Vögel bauen keine Nester in Dornen.

Und der zweite Baum wuchs mit den Jahren dem Himmel entgegen und entwickelte ein dichtes Blätterdach. Vögel nisteten in seinen Zweigen. Der Knabe baute eine Bank rund um den Stamm und lauschte dort sitzend dem Morgenlied der Vögel, zählte nachts die Sterne am Himmel, sah zu wie der Mond seine Bahn zog und war es zufrieden. Und wenn sein Blick auf den kleinen grauen Dornenbaum fiel, störte ihn der Anblick nicht mehr, hatte er nun doch alles erreicht was er wollte.

Viele Jahre gingen ins Land, da fühlte der Knabe, dass es Zeit wurde, in sein Heimatland zurückzukehren, um dem König, wie vereinbart, Rechenschaft abzulegen und über sein Tun zu berichten.

Also sammelte er die Samen des hochgewachsenen zweiten Baumes ein, die dieser abgeworfen hatte und steckte sie in das leinene Säckchen, das ihm der König einstmals mit auf den Weg gegeben hatte. Du bist ein guter Baum, sagte er. Es war eine Freude für mich, dich wachsen zu sehen und in deinem Schatten auszuruhen. Ich danke Dir dafür.

Und er ging auch zu dem kleinen Dornenbaum um sich zu verabschieden. Schade, kleiner Baum, sagte er, dass all mein Bemühen um dich vergeblich war. Habe ich dir unrecht getan, indem ich dich beschnitten habe? Indem ich dir eine Form geben wollte, die deinem Wesen nicht entspricht? Ich tat es aus Unkenntnis und weil ich Dein Bestes wollte. Bitte verzeihe mir, dann will auch ich dir verzeihen, dass du mich mit deinen Dornen gekratzt und mich mit deinen Ästen geschlagen hast, so bald ich dir nahe kam. Wisse kleiner Baum, in meinem Herzen sehe ich dich groß und wohlgewachsen und so schön wie jener andere Baum dort drüben. Ich sehe nicht deine graue borkige Rinde und deine verkrüppelten Äste. In meinem Herzen sind deine spitzen Dornen aufgeblüht zu unzähligen blauen Blüten. Schade, dass all meine Kraft nicht ausreichte, dieses Bild von dir Wirklichkeit werden zu lassen. Doch will ich auch von dir etwas mitnehmen zu meinem König, wenn du es mir erlaubst. Und er brach eine Handvoll Dornen ab und steckte sie in das Säckchen zu den Samen. Dann band er es sorgsam zu, hängte es an seinen Gürtel und wanderte fort. In der Ferne wandte er sich noch einmal um, betrachtete seinen Garten, der im Lichte der untergehenden Sonne niemals schöner ausgesehen hatte als in diesem Augenblick, er sah, dass alles gut geworden war und machte sich auf den langen Weg zurück in sein Heimatland.

Ich bin zurückgekehrt mein Gebieter, sagte er, als er vor dem Thron des Königs stand, um Rechenschaft über mein Tun und Schaffen abzulegen. Es ist mir tatsächlich gelungen, in jenem Land, das du mir zu eigen gegeben hast, einen Baum zu pflanzen, ihn zum Wachsen zu bringen und seine Samen einzusammeln. Er nestelte an seinem Gürtel, löste das leinene Säckchen und legte es dem König zu Füßen. Der ließ es von einem seiner Diener öffnen, griff hinein und zog eine Hand voll kleiner brauner Samen heraus. Wunderbar, sagte der König voller Freude, dir ist tatsächlich gelungen, was so viele meiner Untertanen vorher vergeblich versuchten. Du bist wirklich ein guter Gärtner und verstehst etwas von deinem Handwerk. Ich hoffe, du hast all die Erfahrungen machen und dir all das Wissen aneignen können, das du in der Fremde suchtest.

Das habe ich mein König.

Lass uns diese Samenkörner in meinem königlichen Garten in die Erde stecken und sehen ob sie austreiben, sagte der König. Gelingt dies, so ist der Fluch gebrochen und du sollst reichlich belohnt werden. Und wieder fasste der König in das leinene Säckchen und zog neue Samen hervor, doch dieses Mal lagen zwischen den Samen lange spitze Dornen.

Woher kommen die Dornen, fragte der König.

Wisse mein König, sagte der Knabe, ich habe nicht einen, sondern zwei Bäume in meinem Garten gepflanzt und zum Wachsen gebracht. Die Dornen stammen von dem ersten Baum, den ich pflanzte. Denn der erste Baum trieb keine Blätter und keine Samen, nur Dornen. Dennoch habe ich sie mitgebracht, weil mir der kleine Baum leid tut und ich ihm vergeben habe. Der zweite Baum brachte mir mehr Glück. Er wuchs hoch in den Himmel und trieb Blätter und die Samen, die du in deiner Hand hältst.

Du hast wohlgetan, antwortete der König. Indem du diesen einzigartigen Garten geschaffen und die Bäume darin zum Wachsen gebracht hast, hast du das Unmögliche möglich gemacht. Ruhm und Ehre gebührt dir, denn damit ist dir etwas gelungen, an dem andere vor dir stets gescheitert sind. Wir werden die Samen aussähen und auch die Dornen.

Warum sollten wir die hässlichen spitzen Dornen aussäen, fragte der Knabe. Der König lächelte.

Ich will dir zeigen, warum wir Samen und Dornen aussäen, antwortete der König.

Und der König zeigte dem Knaben in einer Vision, was aus seinen Samenkörnern werden würde: Starke, schöne Schösslinge, die aus der Erde des Schlossgartens trieben, Schösslinge, die in Windeseile dem Himmel entgegenwuchsen und zu stattlichen dichtbelaubten Bäumen wurden. Und er sah in dieser Vision auch kleine kaum mannshohe Bäumchen mit borkiger grauer Rinde und vielen hässlichen langen und spitzen Dornen. Doch dann geschah etwas Wunderbares: Die Dornen öffneten sich und zarte tiefblaue Blüten sprossen aus ihnen hervor. Und über den Blüten flatterten kleine bunte Kolibris, sie senkten ihre Schnäbel und tranken Nektar aus den geöffneten Blütenkelchen. Es war wunderschön anzusehen.

Mein Dornenbaum, sagte der Knabe überwältigt, als er das sah. Dieses Bild eines blühenden Dornenbaumes habe ich voller Hoffnung in meinem Herzen getragen viele, viele Jahre lang: blaue Blüten, die aus den Dornen wachsen. So war also all meine Hoffnung, all meine Zuwendung an dieses Bäumchen doch nicht vergebens.

Zuwendung zu verschwenden und liebevoll zu sein ist nie vergebens und wird früher oder später immer belohnt, auch wenn wir oft lange drauf warten müssen und am Erfolg zweifeln mögen, sagte der weise König.

Dann gingen sie zusammen hinaus in den Schlossgarten, gefolgt vom gesamten Gesinde und steckten die braunen Samenkörner des zweiten Baumes in die Erde und auch die Dornen.

Ich werde dich zu meinem Hofgärtner machen, sagte der König, nachdem sie in den Palast zurückgekehrt waren. Dies soll der Lohn für deine Mühe sein und außerdem entspricht es deiner Natur.

Ich danke dir mein König für deine Güte, antwortete der Knabe. Ich werde mich dieses Amtes würdig erweisen.

Und während er diese Worte sprach, entstand in seinen Gedanken und in seinem Herzen ein wunderbares Bild:

Er sah Bäume, unzählige Bäume, im ganzen Königreich, Bäume mit dichtbelaubtem Blattwerk, in dem unzählige Vögel ihre Nester bauen würden, er sah schnurgerade Alleen, auf denen Pferdekutschen fuhren, sah herrliche Laubwälder, in denen man Wild jagen und schattige Auen, in denen das Volk lustwandeln konnte.

Und mehr noch, er sah blühende und fruchttragende Obstbäume und nicht zuletzt: viele kleine graue Dornenbäume, die in einer einzigen Sommernacht leuchtend blaue Blüten austrieben. Denn der Fluch des Zauberers war gebrochen und nichts stand der Verwirklichung seiner Ideen mehr im Wege. Mit aller Liebe, zu der er fähig war, würde er diese Ideen in den kommenden Jahren verwirklichen.

Er war sich sicher, dass ihm dies gelingen würde, denn er hatte genug Klugheit und Wissen erworben, genug Erfahrungen gesammelt, um erfolgreich zu sein, draußen in seinem Garten - im Garten des Lebens.

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Petra Koch

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