Das Wolkenschiff

Laß uns schauen, was die Leute da unten in dem kleinen Städtchen machen, sagte der liebe Gott leise zu sich selbst, als er an einem wunderschönen Sommerabend Anfang September auf seinem Wolkenschiff dem Sonnenuntergang entgegen fuhr. Ich will sehen, was da unten vor sich geht. Er griff nach seinem Fernrohr, presste es ans rechte Auge und während sein Blick über das Städtchen schweifte, entdeckte er sogleich den Versicherungsmakler Haberstroh, der der alten schwerhörigen Oma Sutter einen unnützen Vertrag aufschwatzen wollte. Der liebe Gott schüttelte den Kopf, und dachte, den Kerl werde ich im Auge behalten. Ein paar Häuser weiter fiel sein Blick auf Hänschen Vonderstraß, der gerade das Ventil am Vorderreifen des Fahrrades aufschraubte, das seinem erklärten Lieblingsfeind Bonzo gehörte, der ihn immer in die Seite boxte, sobald er ihn traf. Im Unterdorf zankte das junge Ehepaar Schreiner zum hundertsten Mal um die nicht zugedrehte Zahnpastatube. Der liebe Gott seufzte, runzelte die Stirn und suchte weiter mit seinem Fernglas das Städtchen ab. Im Bahnhof fuhr gerade ein Zug ein. Viele Fahrgäste in den Waggons kamen von der Arbeit und sahen müde aus, manche verdrießlich, als fehle ihnen jegliche Lebensfreude. Der liebe Gott schwenkte das Fernrohr herum. Im Stadtgarten hockten drei Jugendliche im Gras, hörten Heavy Mental-Musik aus einem Kofferradio und drehten sich verbotenerweise einen Joint. Auf dem nahen Schulhof wurde noch Fußball gespielt. Dort trat das eingebildete Anwaltssöhnchen Benno Seeberg dem neunjährigen Tamilen Kanagathan, der auf einem Mäuerchen hockend dem Spiel zuschaute, gerade gehässig gegen das linke Schienbein. Der liebe Gott runzelte die Stirn. Er nahm fast alle Gassen und Straßen des Städtchens ins Visier und entdeckte dabei Gutes und in der Überzahl weniger Gutes und manches, das es durchaus wert gewesen wäre, in seinem schwarzen Buch festgehalten zu werden, das er heute ausnahmsweise auf seinem Himmelsschreibtisch liegengelassen hatte.

Der liebe Gott suchte etwas, etwas ganz bestimmtes. Weil alle Gedanken, die die Menschen unten auf der Erde denken und alle Gefühle, die sie fühlen, wie ein farbiger Mantel um die menschlichen Gestalten liegt, und die Qualität des Gedachten und Gefühlten die Farben dieser Ausstrahlung bestimmt (die seit jeher nur die Himmlischen und einige Auserwählte sehen können), waberten fast überall nur trübe Farben, manchmal sogar schlammfarbene oder braungrüne Schlieren um die Leute herum, und das machte den lieben Gott, der nach klaren, reinen Farben um die Menschen herum suchte, ziemlich traurig. Mir scheint, es steht nicht zum besten mit den Menschen, murmelte Er. Sie haben verlernt, einander mit Achtung zu begegnen. Fast jeder denkt nur an seinen eigenen Vorteil. Wo ist nur die Liebe geblieben, die ich einmal in ihre Herzen gepflanzt habe? Enttäuscht wollte Gott gerade sein Wolkenschiff in Richtung des aufgehenden Mondes wenden, da blitzte etwas am Rande des Ortes blaurosafarben auf und fesselte sofort Seine Aufmerksamkeit. Und der liebe Gott sah den Peter, der mit seinem Auto gerade von der Schnellstraße ins Städtchen einbog und sich dabei überlegte, ob er seine Freundin Anja besuchen sollte, um ihr und sich eine Freude zu machen. Leuchtende blaurosa Farben lagen um den Peter und ebenso um den Wagen, den er lenkte. Das intensive Licht hinterließ eine leuchtende Farbenspur auf der Straße wie eine riesige bunte Auspuffwolke. Der liebe Gott schmunzelte fröhlich, als er Peters Gedanken las und nahm das Fernrohr wieder, um nach Anja zu schauen. Anja saß auf der Couch in ihrem Wohnzimmer, kraulte ihre alte schwarzweiße Katze Billie, die neben ihr lag und hielt stumme Zwiesprache mit Peters Foto in einem grünen Holzrahmen. Und auch um Anja herum lag das gleiche unsichtbare blaurosafarbene Leuchten. Da schaute der liebe Gott zuerst in Peters Herz und danach in Anjas Herz und was er darin las, gefiel ihm sehr. Er legte das Fernrohr neben sich auf das blaue Seidenkissen, beugte sich tief aus seinem Wolkenschiff heraus und legte dem Peter, der soeben in die Hafergasse einbog, seine göttliche rechte Hand mitten aufs Herz und die linke Hand legte er auf das Herz von Anja. Und so waren alle drei einen Augenblick lang miteinander auf wunderbare Weise verbunden. All die Zuneigung, die die beiden Menschen seit langer Zeit füreinander in ihrem Innern trugen, floss jetzt durch Gottes eigenes Herz zwischen ihnen hin und her wie ein lebendiger warmer Strom. Und Anja und Peter dachten aneinander und fühlten dabei jene tiefe Zufriedenheit, die wahrer Liebe eigen ist. Und während all ihre Liebe durch das Herz Gottes zueinander floss, da waren sie sich ganz sicher: Sie würden miteinander alt werden und bis ans Ende ihrer Tage Freunde sein und mehr noch als Freunde – Liebende, die nichts und niemand trennen kann. Und das Licht, das dabei in beider Herz aufflammte, strahlte wie nie zuvor und bildete für eine Weile eine große leuchtende Glocke aus blauem und rosa Licht über dem ganzen Städtchen. Und der liebe Gott dachte, es ist nicht alles verloren, solange es noch wahre Herzensliebe zwischen den Menschen gibt. Diese Liebe zwischen Peter und Anja ist etwas sehr Kostbares und Seltenes. Ich werde die beiden ab sofort im Auge behalten und sie auf allen Wegen und bei all ihrem Tun beschützen, damit ihr Herzenswunsch, gemeinsam alt zu werden, sicher in Erfüllung geht.

Und dann, nachdem dies beschlossen war, legte der liebe Gott seine Hände wieder auf das Steuer seines Wolkenschiffes und segelte mit sich und der Welt zufrieden weiter nach Westen in die untergehende Sonne.

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Petra Koch 2011

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