Die Blauen Höfe

Eine Weihnachtsgeschichte

Die Zeiger der Uhr auf dem Umsteigplatz der Strassenbahn krochen träge über das Zifferblatt. Ein paar vereinzelte Schneeflocken fielen aus dem dunklen Nachthimmel zur Erde und das Licht der Weihnachtsdekoration in der Einkaufsmeile der Stadt spiegelte sich im nassen Asphalt. Den ganzen Abend war ein eisiger Wind durch die Strassen gefegt und so hatten sich auch die letzten Spaziergänger nach der Christmette im alten Münster schnell in die Wärme und Geborgenheit ihrer Wohnungen zurückgezogen, um im Kreise ihrer Familien und Freunde unter den hell erleuchteten Weihnachtsbäumen zu feiern, denn es war Heiligabend. Um diese späte Stunde schien die Stadt still und verlassen, nur ein einzelnes Taxi wartete mit leuchtendem Schild am Standplatz in der City auf einen späten Fahrgast. Die letzte Fahrt lag eine halbe Stunde zurück, und die Fahrerin fröstelte, weil der Wagen auszukühlen begann. Sie schaute durch die Windschutzscheibe in das Schneetreiben hinaus. Alle, die sich weiße Weihnachten gewünscht haben, werden sich freuen, daß es schneit, dachte sie. Vielleicht stehen sie jetzt an den Fenstern ihrer Stuben, schauen eine Weile dem Fallen der Flocken zu, bevor sie den Abend ausklingen lassen bei einer guten Flasche Wein und selbstgebackenen Plätzchen. Eine Fahrt noch, dann gehe ich auch nach Hause.

Der Schnee blieb jetzt liegen auf dem Pflaster. Die Frau hing ihren Gedanken nach, wurde ein bißchen müde und schaute deshalb erschrocken auf, als die Beifahrertür geöffnet wurde, ein Schwall kalter Winterluft herein wehte und ein Mann mittleren Alters sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Er trug einen dunkelblauen Trenchcoat mit hochgeschlagenem Kragen und der Stockschirm, den er geschickt zwischen seine Knie klemmte, und der völlig trocken zu sein schien, bestand aus demselben Stoff, wie der um den Hals gebundene Schal und das Futter des Mantels. Der Mann roch gut, ein bißchen geheimnisvoll nach dunklen asiatischen Hölzern, einer Spur Moschus und Zimt und er lächelte sie offen an.

So spät noch unterwegs, wir beide, sagte er zu ihr gewandt, und in dieser Nacht.

Ja, antwortete die Frau leise, und nach einer Minute des Schweigens: Wohin möchten Sie?

Hinauf in die Berge, zu den Blauen Höfen, antwortete er. Sie nickte, beugte sich herüber, schaltete das Taxameter ein und startete den Motor. Eine Zeitlang fuhren sie schweigend Richtung Osten, zuerst auf der Fernstraße, später über eine schmale, kurvige Landstraße und dann wurden die Fahrwege hinauf in die Berge immer schmäler. Es schneite ohne Unterlaß. Die Frau konzentrierte sich ganz auf das Fahren. Sie sollten bei Ihrer Familie sein, hörte sie ihren Fahrgast sagen, nicht hier im Taxi, in dieser Nacht und bei diesem Wetter.

Ja, das sollte ich wohl, antwortete die Frau und fühlte, wie bei seinen Worten Tränen in ihre Augen springen wollten. Ich bin geschieden, sagte sie, meine Kinder leben weit weg von hier in anderen Städten. Und vor sechs Monaten habe ich meinen Freund, den ich sehr liebte, verloren. Wir haben uns gezankt, er ist gegangen und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. So bin ich jetzt allein und zu Weihnachten tut das sehr weh. Ich wollte nicht zuhause sein an diesem Abend, denn dann hätte ich, bevor der Briefträger kommt, auf Weihnachtsgrüße meines Freundes gehofft und nachmittags auf einen Anruf von ihm. Und spät am Abend hätte ich unbewußt gewartet auf sein Läuten an der Tür. Ein Wunder hätte geschehen müssen, wenn irgendetwas davon eingetreten wäre. Ich wollte mir die Enttäuschung ersparen, indem ich heute abend Taxi fahre. Dabei liebe ich das Weihnachtsfest sehr. Es war auch für mich bisher immer das schönste Fest des Jahres. Soviel Licht überall. Soviel Hoffnung, trotz allem. Es gibt heutzutage keine Wunder mehr, schon gar nicht für mich.

Die Taxifahrerin sah ihren Fahrgast von der Seite an, doch der antwortete nicht. Warum sind Sie denn noch unterwegs, nach Mitternacht? Sieht ganz so aus, als würde auch auf Sie niemand warten. Wo ist ihre Familie? fragte sie.

Oh, sagte er, alle die ich liebe, sind verstreut auf der ganzen Welt. Und ich besuche sie hin und wieder.

Wie schön, wenn Menschen, die sich lieben, einander besuchen, dachte die Taxifahrerin wehmütig.

Fast hätte sie im Schneetreiben eine Abzweigung übersehen. Zu Beginn des Sommers war sie einmal herauf gefahren zu den abgelegenen Gehöften in dem versteckten Seitental des Gebirges und schon damals war der nicht ausgeschilderte Weg schwer zu finden gewesen. Jetzt hatte der Schnee Straße und Landschaft zu einem einzigen weißen Tuch verwoben und sie fragte sich, ob sie den Weg auch dieses Mal finden würde. Dennoch machte sie sich deswegen keine Sorgen. Ihr Fahrgast würde den Weg wahrscheinlich kennen. Und bevor sie danach fragen konnte, hörte sie ihn sagen: Keine Sorge, sie werden die Blauen Höfe finden, gerade so als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Sie war verblüfft. Sie befanden sich wohl schon auf einer Höhe von zwölfhundert Metern als der Schneefall nachließ und bald ganz aufhörte. Die Wolken rissen auf und ein einzelner Stern glitzerte hervor. Hin und wieder entdeckten sie jetzt links und rechts ein paar erleuchtete Fenster: Bergbauernhöfe, die fast im Schnee versanken. Das gleichförmige Weiß der Landschaft ließ die Nacht unter dem Himmel strahlend hell erscheinen.

Wir werden bald da sein, sagte der Fahrgast. Ja, antwortete sie, in ungefähr fünfzehn Minuten. Wird man sie erwarten? Es ist schon so spät. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Oh ja, lachte er, sie erwarten mich immer, Zeit spielt keine Rolle für sie. Wir müssen dort hinüber.

Er zeigte nach links, wo zwei große Findlinge wie eine Wegmarke auf den abzweigenden schmalen Fahrweg verwiesen, der unter der Schneedecke verborgen lag. Das Taxi schlingerte ein bißchen als die Frau das Steuer herumzog, die Räder schwammen im Schnee.

Immer geradeaus jetzt, sagte der Mann neben ihr, immer geradeaus, als sie den Wagen wieder in der Gewalt hatte. Die Frau hielt mit beiden Händen das Steuer fest, denn die Reifen griffen kaum, so hoch lag der Schnee. Das Fahren strengte sie sehr an. Ihr rechter Fuß schlief ein, er schmerzte schon. So fuhren sie eine Zeitlang schweigend dahin unter dem Sternenhimmel und auf einmal glitt das Taxi ganz leicht durch das unberührte Weiß, geradeso als wären unter dem Wagen plötzlich Schlittenkufen. Sie erreichten ein Tannenwäldchen.

Nach links, sagte der Mann da, und nach einer Weile, nach rechts jetzt, und sie gehorchte einfach, weil sie, seit sie die Findlinge passiert hatten, nicht die geringste Spur eines Weges mehr erkennen konnte, nur Schnee, weit und breit, die sanften Konturen von Hügeln ringsum und ein paar Büsche, die wie große weiße Maulwurfshügel aussahen. Dann führte der Weg abwärts, die Grasnarbe schaute vereinzelt unter dem Schnee hervor und dann erkannte man auch wieder den Weg, der nur wenig breiter als der Wagen war und eher einer vom Regen ausgewaschenen Rinne glich. Das Taxi bog um eine Kurve und die Frau nahm überrascht den Fuß vom Gas. Vor ihnen, etwa einhundert Meter entfernt lagen in einer Senke sieben oder acht Fachwerkhäuschen, in denen die kleinen Fenster hell erleuchtet waren. Auch aus den Dachgauben fiel das Licht wie flüssiges Gold über die Dächer und die Hauswände. Aus allen Kaminen stieg heller Rauch in den Nachthimmel. Oh mein Gott, dachte die Frau, das sieht aus, als wäre ich mitten in einem Grimm'schen Märchen gelandet.

Das sind nicht die Blauen Höfe, sagte die Taxifahrerin, wir haben uns verfahren. Ich erinnere mich nicht, je hier gewesen zu sein. Die Blauen Höfe, das sind drei oder vier alte Zehnthöfe, die früher zum Kloster St. Agatha gehörten. Es sind richtige Berghöfe mit Schindeldächern, die fast bis zur Erde herunter reichen. Sie haben bergaufwärts eine Auffahrt in die Scheuern. Ich erinnere mich, im Sommer ein hohes weißes Futtersilo gesehen zu haben und eine große im Bau befindliche Scheune, aber da unten, das sind ja Fachwerkhäuschen, sie passen irgendwie überhaupt nicht in das Landschaftsbild.

Dort hinunter fahren wir jetzt, sagte der Mann, sehen sie die offenen Türen? Sie wissen, daß wir kommen. Sie erwarten uns.

Mich erwarten sie nicht, antwortete die Fahrerin, ich werde wohl gleich wieder zurückfahren. Es ist schon spät, viertel nach Zwölf vorbei.

Sie sind eingeladen, erwiderte der Mann, sie werden schon sehen. Die Frau lenkte den Wagen hinunter und hielt in der Nähe des ersten Häuschens an. Der Mann im blauen Trenchcoat zückte seine Börse und sah sie fragend an. Sie stoppte das Taxameter und deutete auf den Preis. Einhundertvierundachtzigmarksechzig, sagte sie und danke für Ihre Hilfe, wer weiß, ob ich ohne sie hierher gefunden hätte. Er bezahlte.

Hier sind Zweihundert, sagte er und reichte ihr zwei blaue Scheine, der Rest ist für Sie. Und jetzt sollten sie wenigstens auf eine Tasse Tee mit hereinkommen, nach dieser anstrengenden Fahrt.

Ja, sagte die Frau, das werde ich tun, es ist eine gute Idee. Und sie stiegen beide aus. Der Mann faßte die Frau am Arm und sie stapften gemeinsam den Pfad hinauf durch den Schnee. Dort oben wartet man auf uns, sagte der Mann. Er deutete auf eine offene Haustür, durch die gedämpftes Licht herausfiel. Ein magerer kleiner Junge in kurzen Hosen und einem grünkarierten Hemd kam atemlos um eine Hausecke gerannt und hinterdrein ein braungefleckter Terrier.

Hallo Mosche, lachte der Mann, wohin so eilig?

Ich verpasse den Zug, rief der Junge, sich entschuldigend.

Welchen Zug denn? fragte die Taxifahrerin, hier gibt es doch weit und breit keine Bahnlinie.

Oh, lachte der Mann, Mosche meint einen ganz besonderen Zug, und er hat es in jedem Jahr sehr eilig damit. Er faßte die Frau wieder am Arm und sie gingen gemeinsam weiter. Vor der einladend geöffneten Haustüre blieben beide stehen. Der Mann im Trenchcoat betätigte den eisernen Türklopfer. Sie traten in den Flur und stießen fast die Köpfe an der niedrigen holzgetäfelten Decke. Es duftete nach Zimt und Koriander und selbstgebackenen Plätzchen.

Wir sind da, rief der Mann, fröhliche Weihnachten.

Eine uralte grauhaarige Frau trat ihnen entgegen. Sie trug ein blau geblümtes langes Kleid, über das eine weiße Schürze gebunden war, und als sie ihre späten Gäste erkannte, strahlte ihr zerknittertes Altfrauengesicht.

Kommt herein in die Küche, der Tee ist schon bereit. Fröhliche Weihnachten, ihr zwei.

Der Mann legte seinen Mantel ab, zog seine Stiefel aus, schlüpfte in große graue Pantoffeln, von denen drei paar verschiedener Größe neben dem eisernen Herd mit dem Wasserschiff standen und wies die Taxifahrerin an, das gleiche zu tun. Danach setzten sie sich an einen alten Eichentisch, auf dem schon die Teetassen standen und ein Teller mit Plätzchen, und eine Schale mit Walnüssen und kleinen knackigen rotschaligen Äpfeln zwischen frischem Tannengrün. Die Küche mit den dunklen holzgetäfelten Wänden war weihnachtlich geschmückt mit Kränzen aus Tanne und Lebensbaum und vielen roten Schleifen und überall standen kleine Öllampen, die ein warmes Licht in den Raum zauberten.

Märchenhaft, dachte die Fahrerin, einfach märchenhaft.

Im Herd knackten die neu aufgelegten Holzscheite. Es ist hübsch hier, sagte die Taxifahrerin, ich fühle mich, als hätte ich einen Zeitsprung gemacht zurück ins Siebzehnte Jahrhundert.

Ja, antwortete der Mann lächelnd, und hob seine Tasse an den Mund, das trifft es ziemlich genau.

Ich habe kaum Menschen gesehen, wo sind die Bewohner der Häuser?

Sie bereiten sich vor auf das Fest, sagte der Mann, aber einige sind vielleicht noch oben in der Werkstatt unter dem Dach.

In der Werkstatt?

Ja. Wollen Sie sie sehen? Die Frau nickte. Wenn es möglich ist.

Sie tranken den Tee, aßen von den Plätzchen und danach stiegen sie eine steile knarrende Holztreppe hinauf in die Werkstatt unter dem Dach. Auch hier brannte kein elektrisches Licht, nur Öllampen wie unten in der Küche. Sie hingen an Ketten überall an den Dachbalken. Es gab ein paar kleine Tische und eine Werkbank aus rohem Holz, an der ein alter bärtiger in grobes Leinenzeug gekleideter Mann schweigend vor sich hinwerkelte. Der Mann im Trenchcoat tippte die Taxifahrerin an und legte den Zeigefinger auf die Lippen. In der Mitte des Raumes stand ein mit einem blauen Samttuch bedeckter Tisch, auf dem wunderschön gearbeitetes Schmuckwerk in den wunderbarsten Farben ausgebreitet lag: Ketten, Armbänder und Ringe, aus Goldtopas und hellem Bernstein, aus Rosenquarz, Granaten, Rubinen, Karneol und orangefarbenem Jaspis. Sie lagen auf dem Tuch neben den grünen Steinen: Malachit und Jade, Smaragd, Turmalin, Moosachat und Aventurin, Und dort drüben lagen blaue Steine: Topas und Sodalith, Chrysokoll und Türkis, ein herzförmig geschliffener Anhänger aus blauem Lapislazuli, und ein anderer mit kugelförmigem Aquamarin, Gemmen, aus Koralle geschnitten, ein wunderschöner indigoblauer Saphir, der das Licht der Öllampen einfing und widerspiegelte. Die Taxifahrerin und ihr Begleiter sahen sich alles an. Ein eigenartiger Zauber ging von den Steinen aus. Ein mächtiger ganz reiner Bergkristall lag neben einem schweren hellvioletten Amethyst und von beiden schien eine große Kraft auszugehen. Schauen sie nur... dort, sagte die Frau, begeistert, ist das nicht wunderschön. Ich habe noch niemals ein so schönes Schmuckstück gesehen.

Der Mann im Trenchcoat lächelte. Alle Schmuckstücke hier sind sehr schön, aber dies ist wirklich etwas ganz besonderes. Auf dem Tisch lag eine Kette aus getriebenem Silber. Ein großer fünfzackiger silberner Stern diente als Fassung für einen ebenfalls sternförmig bearbeiteten hellblauen Mondstein mit winzigen dunkelblauen Einschlüssen.

Mondstein, Stein des Lichtes, flüsterte die Frau, dein sanftes Licht spiegelt unsere Gefühle und offenbart unsere Träume. Sie hatte diesen Satz erst neulich in einem Buch über Edelsteine gelesen und sie erinnerte sich ganz spontan wieder an ihn, als sie die Kette aufnahm und den Stern sanft in ihre rechte Hand gleiten ließ.

Wie wunderschön er doch ist und so warm. Der Mann nickte.

Wie wunderschön, dachte die Frau, ich wünschte, ich könnte die Kette kaufen. Der Mann im Trenchcoat beobachtete sie schweigend.

Sie schauten sich alles lange an und die Frau konnte sich kaum losreißen von den wunderbaren Steinen mit ihrer magischen Ausstrahlung. Aber ihr Begleiter nahm sie schließlich wieder beim Arm und lenkte sie wortlos Richtung Tür.

Es wird Zeit zu gehen, sagte er. Durch die winzigen Dachgauben konnte man unendlich weit schauen. Mitten durch die nächtliche Schneelandschaft bewegte sich eine Schlange aus Licht, endlos lang.

Was ist das? fragte die Frau, so etwas habe ich noch niemals gesehen.

Das ist der Zug, den Mosche erreichen wollte, erinnern sie sich? Wir müssen uns beeilen, wenn wir dabeisein wollen.

Ich sollte den Heimweg antreten, sagte die Taxifahrerin, es ist schon spät, kurz vor ein Uhr früh.

Aber noch während sie die Worte sprach, verspürte sie den Wunsch, zu erfahren, was es mit dem geheimnisvollen Zug auf sich hatte und sie fühlte sich sowieso hellwach. Draußen liefen jetzt Menschen vorbei und sie sangen. Es klang so rein, so unirdisch schön, daß die Frau stehenblieb und lauschte, bis das Lied immer leiser wurde und schließlich verklang. Sie stiegen die Treppe hinunter in die Küche und zogen ihre Stiefel wieder an.

Sie werden mit mir gehen, mit dem Zug, nicht wahr? fragte der Mann. Unten an der Haustüre drückte ihnen die Alte in dem blau geblümten Kleid Öllampen in die Hand und dann gingen sie schweigend nebeneinander und fanden das Ende der Schlange und schlossen sich ihr an und wurden ein Teil von ihr. Viele der Leute, die mit ihnen gingen, trugen weiße bodenlange Gewänder, andere waren in dickes Leinenzeug gehüllt, manche liefen barfuß im Schnee, andere wiederum trugen kostbare Pelze oder einfache Alltagskleidung und viele waren in Lumpen gehüllt. Und alle hatten sie nur ein einziges Ziel, ein einziger Gedanke verband sie: die Vision einer schneebedeckten Hügelkuppe, auf der eine riesige uralte dicht belaubte Eiche stand. Der Marsch strengte nicht an und die Nacht war auf einmal warm wie im Sommer. Am Fuße des Hügels teilte sich die Menschenmenge. Ging einer links, so wandte sich sein Nachbar nach rechts und auf diese Weise verteilten sie sich in respektvollem Abstand um den Baum. Nur der Mann im Trenchcoat wandte sich weder nach rechts noch nach links. Er ging einfach geradeaus. Mit großen weit ausholenden Schritten erklomm er den Hügel und während er dies tat, ging eine seltsame Veränderung mit ihm vor: Sein blauer Trenchcoat verlor alle Farbe, er wurde transparent und kurz darauf trug der Mann ein langes wallendes weißes Gewand. Die Menschen sahen es und hielten den Atem an. Denn mit dieser seltsamen Verwandlung erklang in den Lüften über der Eiche leise Musik, so rein und klar und schön, daß sie manchem Wartenden die Tränen in die Augen trieb. Dann drehte der Mann im weißen Gewand sein Gesicht der Menge zu und erhob schweigend die Hände zum Himmel. Wie eine gewaltige Orgel fuhr der Wind durch die Blätter der Eiche und die Menschen hörten Musik in ihrem Herzen, jeder ein anderes, ganz besonderes und nur für ihn komponiertes Lied. Und während die Menschen mit geschlossenen Augen ihrem eigenen Lied lauschten, riß der Himmel über dem Hügel auf. Ein weißrosa Licht floß daraus nieder und hüllte die Eiche und den Mann ein, der noch immer mit erhobenen Händen unbeweglich wie eine Statue dastand, er schien in den letzten Minuten um ein vielfaches gewachsen. Hinter der Musik hörte die Frau klar und deutlich eine helle Stimme in ihrem Innern sagen:

Heute wird Christus nicht in einer Krippe geboren im Stall von Bethlehem, sondern mitten in Eueren Herzen. Nicht als Kind kommt ER heute zur Welt, sondern als König des Lichtes und der Liebe. Bewahrt Seine Liebe in eueren Seelen und Sein strahlendes Christuslicht in Eueren Herzen und tragt es hinaus in Euere Alltagswelt. Teilt es mit allen Menschen, denen ihr begegnen werdet, damit Gottes Plan für die Menschheit Wirklichkeit werden kann.

Und als die Stimme verklungen war, da spürte die Frau plötzlich, wie das Licht, das aus dem Himmel geflossen war, in ihr eigenes Herz eindrang und in ihre ganze Seele mit Wärme und mit einem unendlichen Glücksgefühl erfüllte. In diesem Augenblick fühlte sie sich eins mit all den anderen Menschen, die im Kreis um die Eiche standen. Und obwohl sie die Lider geschlossen hatte, sah sie doch auf seltsame Weise alle, und manches Gesicht kam ihr auf einmal bekannt vor. Der junge Mann dort drüben war im Herbst in ihr Taxi gestiegen, und jener dort hatte sie einmal um Auskunft gefragt. Und das junge rothaarige Mädchen wohnte doch in ihrer Straße. Dieser blonde Haarschopf da vorn erinnerte sie an ihren verlorenen Freund. War es möglich, daß auch er hier war? Alle, die sie liebte und kannte, schienen mit ihr hier versammelt zu sein: ihre Kinder, die Eltern, Geschwister, Freunde und Kollegen, Bekannte, Nachbarn, ja alle Menschen, zu denen sie jemals irgendwie in Beziehung gekommen war. Und das Licht in ihrem Herzen fühlte sich so warm und gut an und dehnte sich immer mehr aus. Und dann öffnete sie die Augen. Der Himmel über der Eiche, ja über der ganzen weißen Schneelandschaft war erfüllt von einem wunderbaren zartrosa Licht und in diesem Licht funkelten winzige Sterne in den schönsten Regenbogenfarben, und zwischen den glitzernden Sternen schwebten viele zartgliedrige ätherisch feine Wesen. Das sind sicherlich Engel, dachte die Frau, sie sehen unirdisch schön aus. Ein neues Lied erklang und die Menschen lauschten andächtig. Die Öllampen waren längst erloschen, doch das Licht, das in dieser Stunde in den Menschenherzen geboren wurde und das aus dem Himmel nieder strömende Licht erhellten die Nacht. Die Menschen fühlten in ihren Seelen, daß sie auf einer tieferen Ebene des Seins alle eins waren und sie erkannten, daß jeder des anderen Freund sein konnte, wenn er es zu sein wünschte. Und im Bewußtsein Eins zu sein, faßten sie sich schweigend an den Händen. Ihre Herzenslichter flossen zusammen zu einem einzigen wunderschönen perlmuttfarben Lichtstrahl, der sich mit dem Licht im Herzen des weißgewandeten Mannes verband, des Mannes, der noch immer mit dem Himmel zugewandten Gesicht und erhobenen Händen dastand. Das Licht des Christus in Euren Herzen soll Euch fortan leiten, hörten sie seine kraftvolle Stimme sagen, Friede, Friede und Wohlergehen allen Menschen und Wesen, die guten Willens sind.

Und dann sangen alle gemeinsam ein Weihnachtslied. O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit, klang es aus vielen tausend Kehlen, Christ ist erschienen, uns zu versühnen.... Und auch die Engel und die unzähligen lichten Wesen in den unsichtbaren Ebenen stimmten in den Gesang ein. Und darum hörten auch jene Menschen, die sich nicht um die Eiche versammelt hatten, sondern irgendwo auf der Welt, schlafend oder wachend verweilten, in ihren Seelen dieses Lied und erinnerten sich einen Moment lang an die Botschaft des Weihnachtsfestes.

Als die letzten Akkorde des Liedes verklangen, ließ der weißgewandete Mann seine Arme sinken und langsam erlosch das Licht über dem Hügel. Das Licht in den Herzen der Versammelten aber leuchtete weiter als kleine perlmuttfarbene Flamme. Die Nacht wurde dunkel, die Sterne erstrahlten neu am Firmament und die Öllampen brannten wieder. Die Feier war zu Ende. Frohe Weihnachten, wünschten sich die Leute, einander zugewandt, in allen, wirklich allen Sprachen der Welt, und glückliche, friedvolle Weihnachten, während sie einander herzlich umarmten. Plötzlich war auch der Mann im blauen Trenchcoat wieder da und zupfte die Taxifahrerin am Ärmel ihrer Jacke. Gehen wir, sagte er, es wird Zeit heimzufahren.

Gemeinsam gingen sie, die Öllampen schwenkend den langen Weg zurück zu den Blauen Höfen. Da war eine seltsame Verbundenheit zwischen ihnen, die vorher nicht spürbar gewesen war. Und eine Frage, die einer Antwort bedurfte. Aber die Frau schwieg. So gelangten sie schließlich an das Taxi. Die Frau schloß die Tür auf und stieg ein. Es ist ja schon der erste Weihnachtstag, sagte sie, ich werde mich auf den Weg machen und hoffen, daß ich mich nicht verfahre.

Das werden sie nicht, sagte der Mann lächelnd und zeigte hinauf in den Nachthimmel, sie finden heim. Folgen sie einfach diesem Stern dort. Er führt sie auf den richtigen Weg.

Und die Taxifahrerin verabschiedete sich von ihrem geheimnisvollen Fahrgast, folgte dem Stern, wie er sie geheißen hatte und fand sicher ihren Weg.

Das Geräusch der vorbeifahrenden Straßenbahn zerschnitt die Stille der nächtlichen Stadt und die Taxifahrerin schrak auf. Sie betätigte den Scheibenwischer und schaute durch die Windschutzscheibe auf die Uhr am Umsteigplatz gegenüber. Ich stehe am Standplatz in der City, dachte sie. Eine halbe Stunde noch bis Mitternacht. Ich muß wohl eingeschlafen sein und habe geträumt.

Es schneite noch immer. Die Frau schaltete die Innenbeleuchtung an, sah ihre Geldbörse offen auf dem Beifahrersitz liegen, und erschrak. Noch nie war sie so leichtsinnig mit ihrer Börse umgegangen. Sie schaute kontrollierend hinein. Im Münzfach steckten zwei zusammengefaltete Hundertmarkscheine. Sie steckte ihr Geld niemals ins Münzfach und sie faltete es auch nicht. Diese Entdeckung war seltsam und sie dachte eine Weile darüber nach. Dann nahm sie ihren Taschenrechner und begann die auf dem Fahrtenblatt eingetragen Einnahmen des Abends auszurechnen. Danach zählte sie ihr Geld. Sie besaß zweihundert Mark mehr als sie sollte und war keinen Meter dafür gefahren.

Sie fühlte sich ein bißchen verwirrt, aber dennoch auf eine eigenartige Weise gut. Als sie sich nach vorn beugte, um die beschlagene Scheibe zu säubern, klapperte etwas gegen das Steuer. O mein Gott, dachte die Frau, da ist die Silberkette, die Kette mit dem fünfzackigen Stern und dem Mondstein! Ich kann nicht geträumt haben, ich war wirklich bei den Blauen Höfen! Aber wie?

Sie entschloß sich, das Taxameter abzulesen, es zeigte tatsächlich 184,60 Mark mehr als nach der letzten eingetragenen Stadtfahrt. Das ist eigenartig, dachte sie. Wirklich ganz und gar eigenartig. Nachdenklich nahm die Frau die Kette vom Hals und hielt den Stern aus Silber und Mondstein in der Hand. Wunderschöne blaue Einschlüsse. Sie spürte die Wärme und die Kraft des Steines.

Stein des Mondes, sagte sie leise, dein sanftes Licht spiegelt meine Gefühle und offenbart meine Träume. Und dann lächelte sie. Nein, ich habe nicht geträumt, dachte sie. Ich war bei den Blauen Höfen, obwohl das praktisch unmöglich ist, weil ich mich nicht einen einzigen Meter von diesem Standplatz entfernt habe. Und doch erinnere ich mich an den Duft von Koriander und Zimt in einer alten Küche, an den warmen Schimmer von Öllampen, an Licht über einer dicht belaubten Eiche, an den Mann im blauen Trenchcoat und an die Liebe, die die Menschen einander nahebringt, nicht nur in der Heiligen Nacht. Es gibt noch Wunder, auch für mich. Und sie spürte eine warme Freude im Herzen.

Nicht lange danach wurde die Beifahrertüre geöffnet und eine junge Frau streckte den Kopf herein.

Sind sie frei? fragte sie.

Ja, antwortete die Taxifahrerin, das bin ich.

Die Frau stieg ein und ließ sich seufzend auf den Beifahrersitz fallen. Wohin soll es denn gehen?

Nach Hause, antwortete die junge Frau müde, einfach nur nach Hause.

Und die Taxifahrerin startete den Motor, trat aufs Gas und brachte ihren letzten Fahrgast heim.

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Die hier veröffentlichten Texte dürfen nur mit meiner ausdrücklichen schriftlichen Zustimmung in gedruckter Form oder anderweitig im Internet (z.B. in Portalen) verwendet werden.
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Petra Koch

Diese Geschichte wurde veröffentlicht in dem Buch

Fröhliche Weihnacht ...
Unterhaltsame und nachdenkliche Geschichten und Gedichte
Hrsg. Von Alexander Amberg
Geest-Verlag 2001
ISBN 3-934852-84-X

In diesem Buch finden Sie in einer Vielzahl von Geschichten und Gedichten den Versuch, sich dem für viele Menschen schönsten und bedeutsamsten Fest des Jahres anzunähern. Jeder Mensch erlebte und erlebt Weihnachten anders - gestern und heute. Eine Mischung von jungen und älteren Autoren aus der ganzen Bundesrepublik zeigen die unterschiedlichsten Sicht- und Erlebnisweisen dieses Festes. Die Texte wurden nach einer Ausschreibung des Geest-Verlages ausgesucht und zusammengestellt.

Beziehbar über jede Buchhandlung oder direkt beim Geest Verlag


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