Die Anhalterin

Der Trucker startet den Motor, tritt aufs Gaspedal und lenkt seinen Tankzug auf die Einfädelspur zur A6. Es ist kurz nach 13.30 Uhr mittags und seine Schicht dauert noch ein paar Stunden. Er hat gerade seine Mittagspause beendet am Rasthof Kraichgau, hat auf dem Weg ins Gebäude das Schinkensandwich von gestern gegessen und im Restaurant nur zwei Tassen Kaffee getrunken, für mehr reicht die Zeit nicht. So ist das halt in seinem Beruf, immer hat er Termine im Nacken, die eingehalten werden müssen, ob er will oder nicht. Er hat sich vor zwei Jahren selbständig gemacht mit seinem Tankzug, hat hohe Kredite aufgenommen dafür, die er Monat für Monat abzahlen muss. Heute fährt er Aceton für eine Schweizer Firma. Aceton, weiß er, wird gebraucht für Lacke und Farben, für Kosmetik. Das Geschäft ist hart, wie alles in der heutigen Zeit, wo die Wirtschaft brachliegt und die Konkurrenz groß ist und oft billiger fährt.

Als der Trucker das Hinweisschild auf die A5 Bruchsal-Karlsruhe-Basel passiert, sieht er eine Bewegung aus dem rechten Augenwinkel und entdeckt die Frau auf dem Beifahrersitz. Einen Moment lang ist er total verwirrt als er sie sieht. Bin ich schon so vertrottelt, denkt er, das ich beim Einsteigen oder während der Fahrt nicht mehr bemerke, wer im Wagen sitzt?

Hallo, sagt er, wann bist du denn hereingekommen, ich habe dich gar nicht gesehen. Wohin willst du? Er duzt Anhalter immer.

Die junge Frau antwortet nicht, nur mit den Händen macht sie eine Geste, die er nicht deuten kann, die aber heißen könnte, ich weiß nicht oder was soll's. Eine Art Gebärdensprache, denkt er, vielleicht ist sie Taubstumm.

Er erinnert sich nicht, das Führerhaus offen gelassen zu haben, als er in den Rasthof ging. Er schließt immer ab, ein offenes Führerhaus ist eine Einladung für Diebe. Er ist in den letzten sieben Jahren auf dem Bock schon dreimal ausgeraubt worden. Er hat das Bild deutlich vor Augen, wie er den Schlüssel herumgedreht und ihn dann in seine Westentasche geschoben hat. Wie also ist sie hereingekommen?

Er beschleunigt. Wenn ich ein bisschen Gas gebe und in keinen Stau gerate, kann ich gegen siebzehn Uhr in Basel am Zoll sein, das wäre mir recht.

Die Frau neben ihm ist still. Sie starrt unentwegt durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie ist jung, er schätzt sie kaum älter als zwanzig Jahre. Sie trägt einen grünen Anorak mit blauen Bündchen und blauen Reißverschlüssen an den Taschen. Und eine verwaschene Jeans mit diesen künstlich ausgefransten Löchern an den Knien. Ihr Haar ist dunkelbraun und kinnlang, eine Strähne hängt ihr in die Stirn. Sie hat keine Tasche, keinen Rucksack bei sich. Komischerweise trägt sie nur einen einzigen braunen Schuh, den linken. Er wundert sich darüber, sagt aber nichts in der Hoffnung, dass sie ihm das schon irgendwann während der Fahrt erklären wird.

Es ist November und das Wetter ist schlecht. Es nieselt leicht und der Wind hat die letzten zweihundert Kilometer deutlich zugenommen. Auch durch Nebel ist er heute schon gefahren, das ist nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Aber es kostet Fahrzeit und kein Trucker mag das. Die Tachonadel bewegt sich permanent um die 87 km/h, dies ist die höchste Geschwindigkeit, die er fahren kann, seit er die gesetzlich vorgeschriebene Sperre einbauen ließ.

Rechts fliegt die Landschaft an ihm vorbei, aus seiner Position im Führerhaus sieht das tatsächlich so aus. Es gefällt ihm.

Seine Beifahrerin hat noch kein einziges Wort gesagt. Sie hat die Hände im Schoß gefaltet. Sie sitzt da wie eine große Puppe, ohne jede Bewegung und starrt nach vorn. Der Trucker schaut auf die Uhr am Armaturenbrett.

Es ist 14.10 Uhr.

Gleich wird er vorn am Walldorfer Kreuz den Tankzug auf die A5 Richtung Basel lenken. Bald wird’s dreispurig, denkt er und ich komm voran. Wenn der Verkehr läuft, ohne Unfälle, ohne Staus, das ist ihm am liebsten.

Wo willst du eigentlich hin, fragt er die junge Frau, wo soll ich dich rauslassen? Er denkt daran, sie an einer der nächsten Raststätten abzusetzen, Bruchsal, oder Renchtal, aber natürlich auch an jedem anderen Ort auf seiner Fahrtstrecke, wenn sie ihm sagt, wo. Ihr Schweigen macht ihn unruhig, er hat das Gefühl, das etwas mit ihr nicht stimmt, ganz und gar nicht stimmt. Sie sieht ihn auch nicht an während er mit ihr spricht, sie reagiert nicht, sie starrt geradeaus, nur geradeaus. War dieses minimale Zucken mit den Schultern die Antwort auf seine Frage und bedeutete: keine Ahnung? Die ist aber sehr schweigsam, denkt er, vielleicht hat sie auch ein bisschen Angst, wer weiß. Er kann ohnehin nicht verstehen, warum sie ausgerechnet bei ihm eingestiegen ist und nicht in einen Truck mit ungefährlicher Ladung. Niemand, der einigermaßen bei Verstand ist, steigt in einen Lastzug mit hochexplosiver Fracht.

Das ist auch ein Grund warum ich so selten Anhalter mitnehme, denkt er, man kann nie wissen worauf man sich einlässt. Er mustert sie von der Seite.

Warum trägst Du denn nur einen Schuh, fragt er sie. Sie sagt nichts.

Wenn du nicht reden willst, sagt er, ist es deine Sache. Ich habe gern meine Ruhe. Er greift nach dem Schalthebel, gähnt. Der Kaffee hat mir nicht geholfen, denkt er, ich sollte wieder mal einen ganzen Tag lang nur schlafen.

Um 14.14 biegt er am Walldorfer Kreuz von der A6 auf die A5 Richtung Basel ab. Was hältst du davon, wenn ich dich an der Raststätte Bruchsal rauslasse, fragte er die junge Frau. Er will sie aus der Reserve locken, will dass sie ihm antwortet, irgendwas. Dass sie nicht nur so dasitzt, so steif und unnatürlich, so geistesabwesend. Doch sie schweigt. Nur ihr Atem geht ein bisschen schwerer. Ich kann dich auch woanders rauslassen, sag mir nur wo.

Sie reagiert nicht.

Es ist jetzt 14.16 Uhr und der Verkehrsfunk im Radio schaltet sich ein. Hoffentlich ist nichts auf meiner Strecke, denkt der Trucker.

Achtung Autofahrer! Dichter Nebel auf der A5 Richtung Basel, hört er die Ansagerin. Zwischen Kronau und Bruchsal hat sich aufgrund eines schweren Unfalls ein Stau gebildet. Die beiden linken Fahrstreifen sind gesperrt. Fahren Sie vorsichtig.

Mist, denkt der Trucker, da haben wir den Salat, von wegen freie Fahrt. Ich hasse das. Fast gleichzeitig fühlt er, wie sich langsam aber stetig ein Druck in seinem Magen aufbaut und wundert sich darüber. Das Schinkensandwich von gestern Abend war wohl nicht mehr ganz okay, denkt er. Das fehlt noch, dass mir jetzt schlecht wird! Er greift nach der Sprudelflasche neben sich und nimmt einen langen Schluck. Die junge Frau nebenan sitzt stocksteif da. Er hat das Gefühl, als ob sich die Atmosphäre im Führerhaus seit der Verkehrsfunkmeldung irgendwie verdichtet hat und das liegt nicht an schlechter Luft, das Fahrerfenster steht zweifingerbreit offen.

Er hat das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

Er weiß, dass Verkehrsmeldungen manchmal überholt sind, sobald man vor Ort ist. Er nimmt den Fuß noch nicht vom Gas, er will Zeit schinden, soviel wie möglich, denn wenn der Stau vor ihm noch da ist, am Ende länger geworden ist, will er so weit wie möglich gekommen sein.

Draußen wird es diesig, dann kommt Nebel auf. Die Sicht beträgt aber noch etwa dreihundert Meter. Dieses verdammte Sandwich, denkt der Trucker, ich hätte es nicht mehr essen sollen. Der Druck in seinem Magen ist in den letzten Minuten ständig gewachsen. Hoffentlich muss ich nicht erbrechen.

Es ist 14.21 Uhr.

Der Verkehr verdichtet sich jetzt. Der Trucker geht runter vom Gas. Die Tachonadel sinkt von achtzig auf sechzig Stundenkilometer, auf vierzig. Auch der Nebel wird dichter. Mittlerweile beträgt die Sicht noch etwa einhundertfünfzig Meter. Im Führerhaus hat sich eine fast greifbare Spannung aufgebaut. Der Trucker hat das Gefühl, in einem elektromagnetischen Feld zu hocken, das die ganze Kabine ausfüllt.

Noch einhundert Meter Sicht.

Da wird ihm schlecht. Er will das Gefühl unterdrücken, aber es geht nicht, es überwältigt ihn völlig. Er merkt noch, wie sein Oberkörper nach vorn sinkt und sein rechter Fuß auf dem Gaspedal schwer wird, hat noch den Gedanken: Ich muss die Kontrolle behalten und krampft die Hände ums Steuer. Innerhalb von Sekunden schießt die Tachonadel wieder hoch auf sechzig Stundenkilometer, auf siebzig. Seine bewusste Wahrnehmung will in einem schwarzen Loch verschwinden. Erinnerungen aus seinem Leben tauchen auf wie bunte Puzzlestücke. Es ist ihm klar, was das bedeutet. Zu früh, noch zu früh, wehrt er sich. Die Tachonadel bleibt über der siebenundachtzig hängen. Das Gaspedal ist jetzt ganz durchgetreten und die Sicht draußen beträgt keine fünfzig Meter mehr. Der Tankzug schießt vorwärts, kommt gefährlich nahe an einen blauen Peugeot heran, der langsam und angepasst auf seiner Spur hinter einem Benzinlaster herfährt.

Der Trucker fühlt das Sandwich gallig in seiner Speiseröhre, dann in seiner Kehle. Und hört einen Schrei, hoch und schrill, voll entsetzlicher Angst:

Brems!

Der Schrei:

Brems!

der von überall her zu kommen scheint:

Brems!

Der Schrei,der sich wie ein Echo an den Wänden der Fahrerkabine bricht:

Brems! Brems! Brems, dieser Schrei rast wie ein roter Pingpongball in seinem Kopf hin und her, hin und her und lässt die Puzzlestücke zerplatzen. Der Schrei holt den Trucker zurück in die Gegenwart.

Er erkennt die Gefahr!

Sein rechter Fuß tritt die Bremse durch. Er kann nichts sehen, er befindet sich mitten in einer Nebelbank.

Oh mein Gott, denkt er, hilf mir, hilf.

Der Tankzug schlingert gefährlich. Er lenkt dagegen, etwas in ihm reagiert, bedingt durch jahrelange Erfahrung automatisch und nach einer halben Ewigkeit, wie ihm scheint, bekommt er das Fahrzeug unter Kontrolle. Kurz hinter dem blauen Peugeot bringt er den Tankzug fast zum Stehen. Er kann gerade noch nach einer leeren Einkaufstüte in der Seitenablage greifen, dann erbricht er sich. Es ist ihm peinlich.

Als es vorbei ist, will er sich entschuldigen. Er dreht sich zu der jungen Frau um.

Wenn du nicht geschrieen hättest, will er sagen, wer weiß was passiert wäre. Wir wären in den Peugeot gerast, will er sagen, hätten ihn unter den Benzinlaster geschoben und den Benzinlaster auf die vorausfahrenden Fahrzeuge und dann wären wir beide, du und ich und alle im Umkreis von dreihundert Metern wahrscheinlich in einem riesigen Feuerball verglüht, denn ich habe Aceton geladen. Benzin und Aceton, nicht auszudenken! Danke, dass du geschrieen hast. Du hast uns das Leben gerettet.

Er erschrickt.

Der Beifahrerplatz ist leer.

Die junge Frau ist fort.

Als der Tankzug einen Moment lang fast stand, muss sie ausgestiegen sein, ohne dass ich es gemerkt habe, wann sonst, denkt der Trucker. Er kann es ihr nicht verdenken, bei dem was sich gerade abgespielt hat - haarscharf am Tod vorbei. Komisch ist es trotzdem, ich habe keine Tür schlagen hören, keinen Luftzug gespürt, sie ist gegangen wie sie gekommen ist. Es ist 14.37 Uhr.

Der Verkehrsfunk schaltet sich wieder ein. Der Stau hat sich noch nicht aufgelöst, bald wird’s nur noch im Schritttempo vorwärts gehen. Jetzt wo dieses verdammte Sandwich raus ist, fühlt sich der Trucker wieder besser, ja er ist sogar ein bisschen erleichtert über die erzwungene Pause. Er dreht das Fenster ganz nach unten und lässt Frischluft herein.

Nach einigen Kilometern lichtet sich der Nebel. Auf der dreispurigen Autobahn sind die mittlere und die linke von der Polizei gesperrt worden. Der Trucker hört das Geräusch des Rettungshubschraubers über der Autobahn, sieht ihn nach Süden fliegen, ahnt, dass er weiter vorn zur Landung ansetzt. Wenn der Rettungshubschrauber kommt, ist es immer schlimm, weiß er. Er zockelt auf der rechten Spur dahin, hält respektvoll Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug. Er denkt an die junge Frau. Woher sie kam, wohin sie wollte. Wie sie wohl heißt. Warum sie so plötzlich verschwunden ist. Rätsel über Rätsel.

Um 14.52 Uhr ist er der Unfallstelle auf fünfzig Meter nahe gekommen. Er erkennt, was geschehen ist: ein spanischer Sattelzug hat einen roten Kleinwagen unter den Anhänger eines vorausfahrenden Lkws geschoben. Der Kleinwagen wurde bereits unter dem Anhänger hervorgezogen, um an die Insassen zu kommen. Der Wagen ist so furchtbar zugerichtet, dass der Trucker die Automarke nicht mehr erkennen kann. überall sieht er Blaulicht, Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr. Er hört das Rotorengeräusch des Hubschraubers, der wieder abhebt und Richtung Norden verschwindet. Der Unfall muss passiert sein, als ich noch auf der A6 war, denkt der Trucker, kurz nach 14.00 Uhr.

Um 14.58 Uhr ist er noch zwanzig Meter entfernt von der Unfallstelle, hat ein freies Sichtfeld. Das Nummernschild des Kleinwagens ist teilweise abgerissen worden, das B für Berlin ist noch auszumachen. Das Auto ist nur noch ein Haufen Schrott, der Kühler zusammengeschoben bis zur Rückbank. Da ist nichts mehr zu machen, denkt der Trucker. Er hat ein sehr flaues Gefühl im Magen. Gottseidank war nur eine Person im Auto, denkt der Trucker, während er zusieht, wie Sanitäter sie behutsam neben dem Wrack auf eine Trage legen.

Zehn Meter noch.

Sein Tankzug steht jetzt fast daneben und er schaut hin. Eigentlich will er das gar nicht, er ist kein Gaffer. Aber er tut es dennoch. Es ist jetzt 14.59 Uhr.

Er hat eine ausgezeichnete Sicht von da oben wo er sitzt und kann seinen Blick nicht abwenden. Denn die Person auf der Trage ist die schweigsame junge Frau, die vorhin mit ihm gefahren ist. Er erkennt sie überdeutlich an dem grünen Anorak mit den blauen Bündchen und den blauen Reißverschlüssen an den Taschen und an der verwaschenen Jeans mit diesen künstlich ausgefransten Löchern an den Knien. Aber vor allem erkennt er sie, weil sie nur noch einen Schuh am Fuß trägt, den linken, braunen. Der rechte Fuß ist seltsam verdreht und nackt. Das rechte Hosenbein ist schwarz von Blut. Das Haar der jungen Frau ist dunkelbraun, kinnlang und nass, eine breite Wunde klafft in ihrer Stirn. Aus ihrem rechten Mundwinkel sickert Blut. Der Trucker sieht sie und sein ganzes Weltbild gerät ins Wanken.

Wie kann sie da unten liegen, so grausam verunglückt vor einer Stunde und dennoch vor zehn Minuten noch mit mir gefahren sein, denkt der Trucker. Er starrt betroffen nach unten auf ihr wachsbleiches Gesicht. Sie hat die Augen geschlossen, es sieht aus als ob sie schläft.

Den Rest nimmt er wahr wie in Trance:

Die Sanitäter sehen den Notarzt fragend an.

Der beugt sich über die junge Frau, schüttelt dann den Kopf.

Die Uhr am Armaturenbrett des Trucks springt auf 15.00 Uhr.

Einer der Helfer, der auf dem grauen Asphalt neben der Bahre kniet, zieht unendlich langsam ein weißes Laken über ihr Gesicht.

Der Trucker wischt sich eine Träne aus dem Auge. Dann tritt er aufs Gas, denn die Polizei gibt ihm Freie Fahrt.

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Petra Koch

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