Der letzte Maitag
Mit einem leisen Knacken fällt die Haustür hinter Frank ins Schloss. Vom nahen Kirchturm schlägt die Uhr die halbe Stunde. Es ist 05.30 Uhr, der Tag dämmert herauf. Stets ist das Zufallen der Haustür seine erste Wahrnehmung, wenn der Klammergriff des eisigen Orkans in seinem Hirn sich lockert und sein Bewußtsein ihn träge hineinspült in den letzten Maitag. Sein erster Gedanke, er könne sein Schicksal ändern, wenn es ihm ein einziges Mal gelänge, das Haus um 05.29 Uhr oder um 05.31 Uhr zu verlassen, ist zu flüchtig, als dass er ihn zu einer anderen Handlung veranlassen und den Ereignisablauf ändern könnte. So tut Frank, was er schon immer getan hat am Morgen dieses Tages: Er schultert den blaugrünen Rucksack mit der Thermoskanne und dem belegten Pausenbrot, zieht sein altes Mountainbike aus dem Fahrradständer, schwingt sich auf den Sattel und radelt los.
Es ist still um ihn, totenstill. Frank tritt kräftig in die Pedale, um voranzukommen. Er biegt rechts um die Ecke, dort beginnt der Radweg. Außer ihm ist niemand unterwegs. Nie begegnet er einem anderen Lebewesen, weder Mensch noch Tier. Fünf Minuten braucht er durch die Siedlung. Nach den letzten Häusern führt der Weg drei Kilometer lang durch Wiesen und Felder bis zur Bahnlinie und dann parallel zu den Schienen durchs nächste Dorf ins Industriegebiet, wo im Stahlwerk um halb sieben seine Frühschicht beginnt.
Der Morgen ist kühl, der Himmel wolkenverhangen. In der Nacht hat es geregnet und der Asphalt ist noch feucht. Frank fröstelt und zieht mit der rechten Hand den Reißverschluss seines schwarzen Sweatshirts höher. Er fährt gerne mit dem Rad zur Arbeit. Früher hat er die Fahrt genossen, die Stille, da konnte er seinen Gedanken nachhängen, freundlichen hellen Gedanken, er hat Pläne für den Abend gemacht oder für die Wochenenden mit Sabine. Er hat sich seine Zukunft ausgemalt in hellen Farben. Heute aber, während er gleichmäßig in die Pedale tritt, sind seine Gedanken nicht heiter, das sind sie schon lange nicht mehr, sie liegen wie schwere schwarze Mühlsteine in seinem Kopf und erdrücken ihn.
Dieses ganze verdammte Unglück,
denkt er, fing an, als Sabine den Job als Abteilungsleiterin im Supermarkt bekam.
Ich Trottel hab ihr noch zugeredet, ihn anzunehmen, obwohl sie gar nicht wollte und danach hat sie,
kaum drei Wochen später diesen Schnösel mit dem schwarzen Cabrio kennen gelernt und ist einfach ausgezogen.
Ich verlasse Dich, Frank, hat sie auf einen fleckigen Zettel geschrieben, such mich nicht und komm auch nicht meinetwegen in den Laden.
Du kannst mich nicht umstimmen. Ich wünsch dir alles Gute.
Wenn er an die lieblosen Worte denkt, fährt der Schreck durch seine Knochen wie ein elektrischer Schlag,
obwohl das nun schon dreizehn Monate her ist.
Das Unvorhergesehene des Verlassenwerdens hat ihn seelisch völlig ausgehebelt,
hat ihn buchstäblich in ein tiefes schwarzes Loch gestoßen, in dem er noch immer herumkriecht.
Er hat Sabine den Gefallen getan, ist nicht mehr in den Supermarkt gegangen, sondern hat anderswo eingekauft.
Er hätte es nicht ertragen, ihr zu begegnen.
Was hab ich nicht alles für sie getan,
denkt er. Ich habe sie geliebt.
Nachdem Sabine ausgezogen war, ging einfach alles den Bach runter.
Zwei Jahre hatte sie völlig kostenfrei mit ihm in seiner Eigentumswohnung gelebt, die er fleißig und pünktlich abzahlte.
Er verdiente damals gut bei der Spedition und sprach das Thema Kostenbeteiligung nie an, hoffte aber, Sabine würde von allein dazu beitragen.
Sabine jedoch gab ihr Geld lieber für schicke Klamotten und Kosmetik aus und fand es selbstverständlich, dass er sie aushielt.
Er war schon einundfünfzig und sie war seine erste Freundin, ein schillernder bunter Schmetterling, der sich in sein Leben verirrt hatte.
Es schmeichelte ihm, dass eine junge, hübsche Frau wie Sabine sich für einen schüchternen Durchschnittstypen wie ihn interessierte.
So hat er sie gewähren lassen. Als sie ihn verließ, da konnte er es nicht fassen, obwohl die Signale zu deuten gewesen wären.
Blind bin ich gewesen vor Liebe,
denkt er und spürt einen Anflug von Wut in den Eingeweiden.
Sie war so undankbar,
denkt er. Ich hab ihr sogar das neue Auto gegeben und bin mit dem Rad zur Arbeit.
Ich hab ihr Blumen mitgebracht, jeden Freitag, Ich hab ihr die hübschen Dessous gekauft, die sie wollte, die Möbel, die sie ausgesucht hat.
Ich war so blöd.
Nie hätte ich gedacht, dass sie einfach so abhaut und noch dazu mit einem Kerl, der eine Visage hat wie ein Windhund.
Warum?
Er tritt schneller in die Pedale.
Es geht leicht bergab.
Ich verkrafte das nicht,
denkt er, ich werde das niemals verkraften.
Es ist ja nicht nur das Alleinsein, die Sache mit den Schulden, das ist viel schlimmer, da komm ich niemals raus.
Tag für Tag hat er gehofft, dass sie zurückkommt, dass sie ihrer neuen Liebschaft bald überdrüssig werden würde, dass der Schnösel nur eine vorübergehende Episode in ihrem Leben wäre.
Es ist so still um Frank, kein Windhauch. Kein Blatt bewegt sich an den Bäumen. Es scheint, dass die Welt um ihn herum innehält und nur er sich bewegt. Vorwärts. Vorwärts, die Pedale auf und ab. Dort vorn die Unterführung. Danach noch ein Stück durch die Wiesen, dann die Bahnlinie.
Ich hab auch Fehler gemacht, einen nach dem anderen,
denkt er einsichtig, es hat keinen Sinn unehrlich zu mir selber zu sein.
Ich hätte öfter mit ihr ausgehen sollen, wie sie es wollte, statt zuhause auf der Couch vor dem Fernseher zu hocken,
hätte nicht immer die Quizsendungen wegzappen sollen, bloß weil sie mehr wusste als ich.
Ich hätte ihr mehr zuhören sollen.
Wenn Sabine dageblieben wäre, wäre alles anders gekommen.
Ich hätte mich an dem bewussten Abend im November nicht vollaufen lassen, hätte den Unfall mit dem Auto nicht gebaut,
den Führerschein und den Job in der Spedition nicht verloren.
Trotzdem, die undankbare Kuh ist an allem Schuld.
Die Sache mit dem Unfall und dem Führerscheinentzug war schon ein Hammer. Von einem Tag zum anderen war er arbeitslos, der zwei Jahre alte Golf Schrott, die Raten dafür dennoch fällig, seine Ersparnisse für Zins und Tilgung der Wohnung bald verbraucht, nach vier Monaten sein Konto hoffnungslos überzogen. Er bekam Arbeitslosengeld. Die Ratenzahlungen ließ er schleifen, erst um ein paar Tage, dann eine Woche, dann setzte er ganz aus. Es reichte einfach nicht dafür. Hilflos trudelte er in der sozialen Abwärtsspirale dem Abgrund entgegen. Die Banken schickten Mahnungen. Anfangs bat er noch um Stundung, zahlte wieder, wenn auch schleppend, die zweite Mahnung kam, die dritte. Er fühlte sich überfordert. Zum Schluss öffnete er brisante Post gar nicht mehr. Dann suchten sie Leute im Stahlwerk. Er wurde eingestellt. Seine Aussichten: ein Vierteljahr Probezeit, danach eine Festanstellung. Er schöpfte wieder Hoffnung.
Frank radelt durch die Unterführung.
Obwohl es der letzte Maitag ist, liegen die Wiesen brach, das Gras ist braun. Andernorts würde um diese Zeit der Löwenzahn blühen und erste Margariten. Frank nimmt es nicht war. Er radelt und radelt, mechanisch, ohne sich umzusehen. Immer wenn er die Unterführung passiert hat, überflutet ihn das Gefühl, in seinem eigenen Kopf festzusitzen wie eine Ratte im Käfig und in der schwarzen, zähen Masse seiner Gedanken zu ertrinken.
Die Bahnlinie.
Alles hätte gut werden können, aber nein,
denkt er, trifft dich der Hammer, so trifft dich auch der Stiel.
Stellen mich ein im Stahlwerk, obwohl sie wissen, dass sie mich wieder entlassen werden, machen mir Hoffnung und dann alles wieder kaputt.
Das ist so gemein.
Morgen, am ersten Juni, endet seine Probezeit. Er hat Gerüchte gehört, dass er nicht übernommen wird, weil er zu alt ist. Aber er fühlt sich nicht alt und er arbeitet bis zur Erschöpfung, denn den Job im Stahlwerk zu behalten ist ihm wichtig. Die Gerüchte machen ihn schon seit Tagen völlig verrückt. Vor zwei Wochen hat er in einem Anfall großer Selbstüberwindung die ungeöffnete Post auf den Wohnzimmertisch gelegt und nach und nach alles gelesen. Es hat ihn umgehauen. Bereits im Februar hatte die Hypothekenbank die Zwangsversteigerung der Wohnung angekündigt, im März die Hausbank die Zwangsvollstreckung gegen ihn eingeleitet. Er hat dann einen Tag freigenommen und dort vorgesprochen, hat das Blaue vom Himmel heruntergeredet, ist quasi auf Knien gerutscht und hat gebettelt, mit dem Hinweis auf seine baldige Festanstellung. Sie hielten sich alle Optionen offen und meinten nur: wir setzen uns wieder mit ihnen in Verbindung. Das taten sie auch.
Die Schweine bei der Bank,
denkt Frank, sie haben mich beschissen, haben einfach den Termin zur Zwangsversteigerung festgesetzt,
ohne noch ein Wort mit mir zu reden. Sie machen mich obdachlos und es ist ihnen egal was aus mir wird. Ich hab keine Lust auf so ein Leben.
Er fährt jetzt ein Stück parallel zu den Gleisen in südlicher Richtung und schaut kurz auf seine Armbanduhr.
Es ist 6.05 Uhr.
Um 6.07 Uhr rast ein ICE auf den Gleisen nach Norden, Tag für Tag. In den vergangenen Wochen, wenn Frank sich im Bett herumwälzte und vor Sorge kein Auge zubekam, hat er sich wieder und wieder ausgedacht, wie er auf den Schienen steht und mit ausgebreiteten Armen auf den ICE wartet. Eine dumpfe Angst ist dabei in ihm hochgekrochen und Bedenken, er könnte dafür bis in alle Ewigkeit in der Hölle brennen müssen. Doch nachdem der Versteigerungstermin im Gemeindeanzeiger bekannt gemacht worden war, hatte die Vorstellung da oben zu stehen und in einem einzigen mutigen Augenblick aller Probleme ledig zu sein, etwas überaus Tröstliches.
Vergangenen Freitag, als er den Zug hörte, ist er vom Rad gestiegen und hat ihm nachgesehen mit zitternden Knien.
Gleich muss der ICE kommen,
denkt Frank. Ein Ruck geht durch ihn hindurch.
Heute mach ich es,
denkt er, heute spring ich vor die Lok.
Franks Tritt in die Pedale wird unsicher. Das Mountainbike wackelt und er steigt ab, um nicht zu fallen. Wieder ein kurzer Blick auf die Uhr:
6.06 Uhr.
Er wirft das Rad zur Seite und klettert die Böschung zu den Gleisen hinauf. Das Gras ist feucht, er rutscht mit dem linken Fuß aus, fängt sich wieder und erreicht den Schotter. Wieder fühlt Frank Angst, doch hinter der Angst: Entschlossenheit.
Er bückt sich, legt die rechte Hand auf das kühle Eisen. Das Gleis vibriert.
Der Zug. Gleich. Dort vorn.
Frank kann ihn sehen, den Zug, winzig noch, doch größer und größer werdend, je näher er kommt mit seiner unvorstellbaren Geschwindigkeit.
Jetzt.
Frank macht einen Schritt mitten aufs Gleis. Die Angst ist fort. Er breitet die Arme aus. Alles ist auf einmal so klar, so folgerichtig.
Dann reißt ihn ein eisiger, brüllender Orkan von den Füßen...
und...
... mit einem leisen Knacken fällt die Haustür hinter Frank ins Schloss. Vom nahen Kirchturm schlägt die Uhr die halbe Stunde. Es ist 05.30 Uhr, der Tag dämmert herauf. Stets ist das Zufallen der Haustür seine erste Wahrnehmung, wenn der Klammergriff des eisigen Orkans in seinem Hirn sich lockert und sein Bewusstsein ihn träge hineinspült in den letzten Maitag. Sein erster Gedanke, er könne sein Schicksal ändern, wenn es ihm ein einziges Mal gelänge, das Haus um 05.29 Uhr oder um 05.31 Uhr zu verlassen, ist zu flüchtig, als dass er ihn zu einer anderen Handlung veranlassen und den Ereignisablauf ändern könnte. So tut Frank, was er schon immer getan hat am Morgen dieses Tages: Er schultert den blaugrünen Rucksack mit der Thermoskanne und dem belegten Pausenbrot, zieht sein altes Mountainbike aus dem Fahrradständer, schwingt sich auf den Sattel und radelt los.
Es ist still um ihn, totenstill.
Ein Jahr später
An einem Sonntag im Juni radelt ein älterer Mann den Weg an der Bahnstrecke entlang in nördliche Richtung. Er radelt, um sich fit zu halten, mal hierhin, mal dorthin. Heute jedoch hat er bewusst diesen Weg gewählt. Er ist Vorarbeiter im Stahlwerk und Mitglied des Betriebsrates. Der Mann schaut immer nach links als suche er etwas. Nach einer Weile hat er es gefunden und steigt vom Rad. Er greift nach einem Strauß Wiesenblumen, der auf dem Gepäckträger befestigt ist und geht zu dem kleinen braunen Holzkreuz am Fuß der Böschung.
Frank
31. Mai 2004
steht darauf.
Mensch Frank,
sagt er leise, warum bist du nur vor den Zug gesprungen?
War es wegen der dummen Gerüchte?
Natürlich wärst du übernommen worden.
Warst ein guter Mann. Schade um Dich.
Ich hoffe, Du hast jetzt deinen Frieden gefunden.
Dann legt er die Blumen nieder und schaut nachdenklich die Böschung hoch. Ein Regionalzug fährt vorbei.