Frösche

Der Garten

Roland Moosmann war rein äußerlich ein unscheinbarer Mensch. Von mütterlicher Seite hatte er eine Krankheit geerbt, deren hervorstechendstes Merkmal ein gedrungener Körperbau und große hervorquellende Augen waren. Und weil Roland im zarten Alter von drei Jahren an Rachitis erkrankte, was ihm auffällige, o-förmig gebogene Beine eintrug, nannten ihn seine Eltern bald liebevoll Fröschle. Auch im Kindergarten und in der Grundschule war er nur “das Fröschle”. Später auf dem Gymnasium riefen ihn die Mitschüler, ob Freund oder Feind, Froggi, eine Ableitung des englischen Wortes Frog für Frosch. Diesen Spitznamen behielt Roland Moosmann zeitlebens. Nach dem Abitur arbeitete er als Angestellter beim Bauamt und machte dort Karriere. Als er vierundzwanzig war lernte er Martha an der Essensausgabe der Kantine kennen. Sie war zwölf Jahre jünger als er, etwas einfältig und ebenfalls keine Schönheit und er heiratete sie, weil sie seiner Mutter gefiel. Kurz nach der Hochzeit zog er mit ihr in eine Dreizimmerwohnung ohne Balkon im achten Stock eines Hochhauses. Martha wollte keine Kinder und Moosmann akzeptierte es.

Von Moosmanns Wohnzimmerfenster aus konnte man auf das weite Areal des Universitätsklinikums und auf das südwestlich davon gelegene Schrebergartengelände zwischen der Güterbahnlinie und der Stadtautobahn sehen und wenn Moosmann seine Blicke schweifen ließ, sagte er oft mit einem sehnsuchtsvollen Unterton in der Stimme:

Martha, wenn ich Rentner bin, pachte ich mir ein Stück Land da unten, was meinst du dazu? Eigenes Gemüse und Obst und ein Platz in der freien Natur, wäre das nicht schön?

Martha, die zur Bequemlichkeit neigte, gab ihm darauf nur ausweichende Antworten.

Kurz nach Moosmanns Pensionierung bot ihm ein verwitweter Nachbar, der nach Thailand auswandern wollte, für einen äußerst günstigen Preis seine Parzelle im nahen Schrebergartengelände an. Weil sie am äußersten Rande des Geländes lag entsprach sie überhaupt nicht Moosmanns Vorstellungen, dennoch bekundete er Interesse und vereinbarte mit dem Nachbarn einen Besichtigungstermin.

Die Parzelle hatte gute zwei Jahre brachgelegen und zeigte Spuren von Verwilderung. Moosmann sah sofort, dass er sehr viel Zeit und Arbeit investieren müsste um Ordnung zu schaffen. Im hinteren Teil des Grundstücks befand sich jedoch eine kleine Blockhütte, an der weiße Kletterrosen rankten und die ihm sehr gefiel, weil sie auch zum gelegentlichen übernachten geeignet war. Der sechs Quadratmeter große Raum war ausgestattet mit einer Doppelkochplatte, einer Eckbank mit Tisch und zwei Stühlen und niedrigen Schränken, in denen sich viel ordentliches Geschirr befand. Eine schmale Leiter führte nach oben, wo unter dem Spitzgiebel der Hütte genügend Platz für ein Matratzenlager war. Es gab Wasser und Strom. Hier kann ich die Natur rund um die Uhr genießen, dachte Moosmann, und Martha kann im Sommer im Liegestuhl in der Sonne liegen und ihre Bücher lesen. Er unterschrieb den Kaufvertrag.

Moosmann fand brauchbare Gerätschaften in einem Verschlag an der Hütte und machte sich in den nächsten Tagen ans Werk: Er zerhackte die alten kranken Beerensträucher und ersetzte sie durch neue. Er beschnitt die vier verholzten Spalierobstbäume, grub ein Drittel des Bodens um für Beete und schnitt die Kletterrosen und die Himbeersträucher zurück. Er stutzte die Kirschlorbeerhecke und harkte das Herbstlaub zusammen. Hinter der Hütte legte er einen Komposthaufen an.

Während des Winters studierte Moosmann Bücher über biologisches Gärtnern. Als es Zeit wurde zu säen und auszupflanzen kaufte Moosmann auf dem Wochenmarkt in der Stadt vorgezogene Jungpflanzen und setzte sie in die Erde. Zwischen die Möhrenreihen steckte er Setzzwiebeln, weil er gelesen hatte, dass dies die Möhrenfliege vertreiben würde und säte Kapuzinerkresse unter die Rosen, um den Mehltau fernzuhalten. Er kaufte Tomatenstauden, steckte Bohnen und Stangen in die Erde, legte einen kleinen Kräutergarten an und säte im vorderen Teil des Grundstücks eine große Rasenfläche an. Als er damit fertig war, bat er Martha, sich den Garten einmal anzuschauen, doch die lehnte wortkarg ab.

Lass mich in Ruhe damit Froggi, knurrte sie zänkisch, mich kümmert dein Garten nicht. Das war eine einzige große Enttäuschung für Moosmann. Nach dem gemeinsamen Frühstück radelte er deshalb täglich in die Anlage, werkelte auf seiner Parzelle und kam erst nach Sonnenuntergang heim. Mit Schmerzen in den Schultern vom Graben und Pflanzen, mit Schwielen an den Händen und Dreck unter den Fingernägeln hockte er dann bis zum Schlafengehen vor dem Fernseher und fühlte sich matt, aber dennoch sehr wohl. Mein Gärtchen, dachte er, wird ein kleines Paradies.

Im Sommer stand der Garten in voller Blüte. Alles gedieh. Moosmann freute sich darüber wie ein kleines Kind. Das erstemal in seinem Leben erntete er eigenes Gemüse, eigene Himbeeren und Johannisbeeren. Martha teilte seine Begeisterung noch immer nicht. Sie hasste es, wenn er Beeren und Gemüse zum Einkochen oder Einfrieren mit nach Hause brachte. So kochte Moosmann spätabends noch Marmelade und versorgte auch das Gemüse allein, damit es nicht verdarb.

Anfang Juli rankten an der Hüttenwand die weißen Kletterrosen bis unters Dach. Moosmann brachte Martha ab und zu einen Strauß davon mit, um sie milde zu stimmen. Doch er musste bald einsehen, dass seine Frau, deren einzige Hobbys Shopping und Lesen war, niemals gärtnerisches Interesse zeigen würde und je mehr er sie vom Gegenteil zu überzeugen versuchte, desto biestiger wurde sie. Schließlich resignierte er. Der Schrebergarten wurde für ihn zu seiner persönlichen Insel der Seligkeit, ein Ort absoluter Ruhe, fernab von jeglichem ehelichen Gezänk.

Im August wurde der Wettbewerb “Der schönste Garten” für das kommende Jahr ausgeschrieben und Moosmanns Ehrgeiz bekam mächtigen Auftrieb. In den vergangenen Jahren, so hatte er erfahren, war stets sein Grundstücksnachbar Buchner Preisträger gewesen. Der schwarzhaarige Moosmann mit seinem basedowschen Blick, der blassen Haut, den krummen Beinen und der nicht zu übersehenden Neigung zu übergewicht war rein äußerlich das genaue Gegenteil des Regierungsrates a. D.

Buchner war groß, blond, blauäugig, braungebrannt und von athletischer Figur, selbstverständlich Tennisspieler, immer gepflegt angezogen, selbst bei der größten Sommerhitze. Moosmann dagegen lief auf seiner Parzelle meist in einem fadenscheinigen blauen Trägerhemd herum, das zwei Finger breit über seinem behaarten Bauchnabel endete und trug alte über den Knien abgeschnittene Jeans.

Buchner hatte einen reinen Ziergarten angelegt. An dem großen Rosenbogen über seinem Eingangstor, der die niedrige akkurat beschnittene Buchsbaumhecke unterbrach, blühten englische Rosen dunkelrot und so üppig, das es eine Freude war, hinzuschauen. Moosmann schaute oft hin und spürte Neid. Auf den BuchnerÔschen Rasenflächen beiderseits des Kiesweges standen große weiße Steintröge mit exotischen Pflanzen und weiße Steinskulpturen: zwei große Fischreiher und zwei Nymphen, die eine Vogeltränke flankierten. Das makellose Grün des Rasens wurde nur unterbrochen durch kunstvoll eingelegte weiße Steinornamente. In den großen Pflanztrögen, die darauf standen, blühte es ebenso prächtig wie am Tor. Auch in Buchners Garten stand die auf dem Gelände übliche Blockhütte, davor jedoch gab es auf einem natursteingepflasterten, mit niedrigen blaublühenden Stauden eingefassten Platz eine sündhaft teuere Sitzgruppe aus rotem Kirschbaumholz mit weichen grünkarierten Auflagen und eine Hollywoodschaukel in passendem Design. Noch nie hatte Buchner Moosmann den Gruß abgenommen. Moosmann konnte den Regierungsrat a. D. nicht ausstehen.

Der Teich

Ich muss mir etwas besonderes einfallen lassen, wenn ich den Wettbewerb gewinnen will, überlegte Moosmann auf einem Erkundungsrundgang durch die Gartenanlage. Auf der Suche nach Ideen schaute er über jeden Zaun. Ihm fiel auf, dass es zwar auf mehreren Parzellen kleine bepflanzte Wasserfässer gab, die recht hübsch anzusehen waren, dass aber niemand einen Teich angelegt hatte, obwohl dies nicht verboten war. Moosmann beschloss also, auf dem im Vorjahr eingesäten Rasenstück einen Zierteich anzulegen, um Buchner den neuerlichen Sieg streitig zu machen.

Er nahm einen Stapel Papier mit in die Hütte, zeichnete einen Plan und machte eine Liste der Dinge, die er benötigte. Danach fuhr er mit seinem alten Ford Kombi in den Baumarkt und kaufte ein.

Das Ausheben des anderthalb Meter tiefen Loches und der niedrigen Sumpfzone war ein hartes Stück Arbeit. Er schuftete wie ein Besessener. Anfang September war das Loch gegraben. Jenseits des Maschendrahtzaunes, der Moosmanns Parzelle gegen landwirtschaftliches Gelände abgrenzte, verlief ein kleiner Bach. Moosmann verband ihn durch einen schmalen Graben mit dem Teich, um den Wasseraustausch zu sichern. In das Loch füllte er eine dünne Schicht Kies und legte die Folie ein. Mit großen Natursteinen, die er von außerhalb des Schrebergartengeländes herbeikarrte, deckte er den Rand der Folie ab, brachte gute Muttererde auf und setzte Rohrkolben, Fieberklee, Sumpfcalla und kleinwüchsige Wasserpflanzen in Tontöpfen in die so geschaffene Rand- und Sumpfzone ein. In die Mitte des Teiches pflanzte er Seerosen. Das ganze Projekt nahm drei volle Wochen in Anspruch. Als der Teich bepflanzt war, setzte er eine Pumpe ein und ließ Wasser einlaufen. Die Uferzone umrandete er mit hellgrauen Steinplatten und stellte eine weiße Holzbank auf. Nachdem das alles geschafft war, begutachtete er sein Werk. Der Teich war um ein Drittel größer geworden als ursprünglich geplant und er war so tief, dass das Wasser darin bis zu Moosmanns Brust reichte. Er war damit sehr zufrieden.

Der zweite Winter nahte und Moosmann war unschlüssig, was er im kommenden Frühjahr in den Teich setzen sollte. Kois oder Goldfische oder sogar beides?

In der Osterwoche war Moosmann bei einem ehemaligen Kollegen zum Geburtstag eingeladen. Weil die Sonne schien, war er mit dem Fahrrad unterwegs und kam deshalb auf dem Heimweg am Gelände der ehemaligen Chemiefabrik vorbei, die vor fünfzehn Jahren geschlossen worden war und deren Gebäude nun langsam zerfielen. Er umfuhr das Gelände, das von einem hohen rostigen Drahtzaun umgeben war. An einer Stelle war der Zaun aufgebogen worden und Moosmann stellte das Rad ab und schlüpfte durch das Loch. Neugierig schlenderte er zwischen den ehemaligen Werkhallen umher. Alles zeigte Spuren des Zerfalls. Auf einer Brache mit verkümmerter Vegetation hatte sich in einer Mulde im Laufe der Jahre ein größerer Tümpel gebildet, dessen Wasser von blauschwarzer Farbe war und eigenartig roch. Moosmann blieb stehen und entdeckte frisch geschlüpfte Kaulquappen darin. Sie waren blauschwarz wie das Wasser und hatten ein paar wenige grüne Rückenflecken. Was Moosmann erstaunte, war ihre ungewöhnliche Größe. Sie waren fast sechs Zentimeter lang. Er schaute ihnen zu und dachte arglos: Ihr seid so schön groß, ihr würdet den Umzug in meinen Teich sicher besser überstehen als die mickrigen Exemplare eurer Art aus dem Biotop bei den Gärten. Weder Kois noch Goldfische werde ich in den Teich setzen, sondern Frösche, beschloss er.

Also schlich Moosmann in einer regnerischen Aprilnacht zum zweiten Mal über das aufgelassene Chemiegelände, fischte mit Marthas neuem Salatsieb einige der nahezu handtellergroßen Kaulquappen aus dem Tümpel in den mitgebrachten Eimer, goss Tümpelwasser dazu und setzte sie in seinen Zierteich ein. Es waren sieben.

Hätte er sich doch nur für Fische entschieden!

Frösche

Die Kaulquappen wurden zu außerordentlich großen blauschwarzen Fröschen mit riesigen gelben Augen und hellorangefarbenen Bäuchen und sie schienen Intelligenz zu besitzen. Moosmann hatte seine helle Freude an ihnen. Immer wieder unterbrach er die Gartenarbeit, setzte sich auf die weiße Bank am Teichrand und schaute ihnen zu. Bald konnte er sie nicht nur an der Zeichnung der Rückenflecken sondern vier von ihnen auch an ihren tiefen röhrenden Stimmen unterscheiden.

Der Garten ist ein kleines Paradies, du wirst dich darin ebenso wohlfühlen wie ich. Komm doch bitte mit, und schau ihn dir an, bat er Martha fast täglich. Aber Martha knurrte wie üblich: Ich kann es nicht mehr hören, lass mich in Ruhe Froggi. Sie stritten jetzt oft deswegen.

Der Juli war wunderbar warm und sonnig und Moosmann, dem die Zankerei gehörig auf die Nerven ging, übernachtete nun mehrmals in der Woche auf einer alten Matratze unter dem Spitzgiebel der Hütte. Er ernährte sich von dem was der Garten hergab und führte ein richtiges Einsiedlerleben. Weil seine Parzelle an der Geländegrenze lag und die dichte Kirschlorbeerhecke den Einblick vom Weg aus in den Garten verwehrte, hatte Moosmann selten Kontakt zu den anderen Schrebergärtnern. Auch der feine Regierungsrat a.D. Buchner hatte sich seit drei Wochen auf seinem Schickimicki-Grundstück nebenan nicht blicken lassen. Moosmann vermutete, dass er in Urlaub gefahren war. Umso besser. So war er völlig ungestört.

Über all der Arbeit hatte Moosmann vergessen, sich rechtzeitig zu dem Wettbewerb “Der schönste Garten” anzumelden und als er sich daran erinnerte, war die Frist verstrichen. Zwei Tage lang ärgerte er sich gewaltig über seine Vergesslichkeit, dann tröstete er sich mit dem Gedanken auf das kommende Jahr. So wurde der Regierungsrat a. D. Buchner auch in diesem Jahr wieder der unangefochtene Gewinner. Moosmann erfuhr es Ende Juli durch einen Aushang im Schaukasten am Eingang der Anlage.

Die Augustnächte im Garten waren wunderschön. Sternschnuppen zischten an Laurentius über den Himmel und wenn Moosmann die Meteoriten fallen sah, schloss er die Augen und wünschte sich, dass Martha, die derzeit mit Freundin Anke auf Mallorca weilte, neben ihm säße und dies sehen könnte.

Bis weit nach Mitternacht saß er auf seiner Bank am Teich, beobachtete den Nachthimmel und die Frösche und fühlte sich unendlich gut.

Die Teichbewohner ähnelten Ochsenfröschen, waren aber doppelt so groß. Oft hockten alle sieben dicht aneinander gedrängt auf der kleinen Holzinsel, die Moosmann für sie gezimmert hatte und beobachteten ihn neugierig mit ihren großen schwarzen Pupillen. Moosmann redete mit ihnen, erzählte ihnen von den alten Zeiten mit Martha, als die eheliche Welt noch in Ordnung war, von ihrer Weigerung, den Garten anzuschauen, von seinem Kummer wegen der ständigen Zankereien. Die Frösche waren Moosmanns einzige Ansprechpartner und sie hörten ihm aufmerksam zu. Manchmal antworteten sie, einer nach dem anderen, mit lauten Rufen, die entfernt an riesige Insektenschwärme erinnerten, als hätten sie verstanden was Moosmann ihnen sagte und er merkte, dass er sie allesamt liebgewann.

Das Ritual des Erzählens und Antwortens vollzog sich stets in der Abenddämmerung. Die Frösche waren inzwischen so zutraulich geworden, dass sechs von ihnen regelmäßig den Teich verließen, sich vor Moosmann aufbauten und nach den eingesammelten Nacktschnecken und den fetten Rotwürmern aus dem Kompost verlangten, mit denen er sie neuerdings fütterte.

Ihr habt es gut Kumpels, sagte Moosmann zu ihnen, ihr liegt den ganzen Tag faul im Wasser und braucht euch nicht mal um das Abendessen zu kümmern. Er warf ihnen die Schnecken zu, die er tagsüber aus den Beeten gesammelt und in einem Eimer aufbewahrt hatte und die Frösche verschlangen sie in Windeseile. Und auch die Würmer verschlangen sie stets so gierig als hätten sie wochenlang gehungert. Eines Abends kam der größte Kerl, der sich bisher immer zurückgehalten hatte, den Moosmann aber für den Alphafrosch hielt, bei der Fütterung auf Moosmann zugehüpft, doch statt eine der Schnecken zu nehmen, die ihm auffordernd dargeboten wurden, biss er Moosmann absichtlich kräftig in den rechten Handballen. Moosmann hatte immer gedacht, dass Frösche nur kleine stumpfe Zähnchen im Oberkiefer besitzen und schrie überrascht auf als er spitze Zähne fühlte, die in sein Fleisch drangen. Blut floss. Es tat sehr weh. Sofort breitete sich um die Bisswunde herum ein rosafarbener runder Fleck aus, der zusehends dunkler wurde. Es dauerte keine zwei Minuten und Moosmanns Hand brannte als hätte er sie in offenes Feuer gehalten. Die Hitze kroch schnell den Unterarm hinauf bis zum Ellenbogen. Moosmann zog sein schweißnasses Unterhemd aus, tauchte es ins Wasser und wickelte es um die schmerzende Hand. Sechs der Frösche hockten vor ihm und schauten ihm interessiert zu. Der unverschämte Beißer jedoch war sofort nach seinem Angriff im Teich abgetaucht. Moosmann war sauer. Verschwindet, ihr Saubiester, schimpfte er. Er trat nach ihnen und die sechs Frösche sprangen eingeschüchtert zurück ins Wasser. Moosmann verzog sich frustriert in die Hütte und legte sich auf seine Matratze.

Es war eine wunderschöne Sommernacht, doch an Schlaf war nicht zu denken. Gegen vier Uhr früh war Moosmanns rechter Arm bis hinauf zur Schulter rot und heiß. Nur mit seiner Unterhose bekleidet schlurfte Moosmann lahm und fiebrig im Mondschein zum Teich, kniete sich hin und hängte den Arm ins Wasser um ihn zu kühlen. Das half augenblicklich, denn als er zehn Minuten später in die Hütte zurückkehrte, hörten die Hitze und das Brennen auf. Es war wie ein Wunder und er schlief erschöpft ein.

Metamorphose

Er erwachte erst gegen Mittag und fühlte sich wie erschlagen. Sein rechter Arm tat wieder weh, die Hand war jetzt blau aufgeschwollen und um die Bissstelle herum hatte sich über Nacht ein blauschwarzer weicher etwas wabbeliger Schorf gebildet. Ich sollte zum Arzt gehen, dachte Moosmann, das sieht böse aus. Weil er sich aber mit fortschreitender Tageszeit wieder fiebrig und benommen fühlte, unterließ er den Arztbesuch. Er legte sich stattdessen auf die Sonnenliege vor der Blockhütte und döste vor sich hin. Am Spätnachmittag pflückte er sich eine Schale voll Himbeeren von den Sträuchern, die zu Buchners Grundstück hin am Zaun rankten, doch sie hinterließen einen so widerlichen Geschmack auf seiner Zunge, dass er sie sofort wieder ausspuckte. Das war ungeheuerlich, hatte er doch bislang die schönen saftigen Beeren täglich als einen willkommenen Leckerbissen verzehrt. Angewidert warf er die Beeren auf den Kompost und stocherte mit dem abgebrochenen Stiel einer Harke so lange in dem Haufen herum, bis nichts von seinem verschmähten Mittagsmahl mehr zu sehen war. Durch dieses Herumstochern gelangten ein paar lange Rotwürmer an die Oberfläche. Moosmann fühlte, wie ihm bei ihrem Anblick das Wasser im Mund zusammenlief. Er wandte sich schaudernd ab.

Der Tag war sehr heiß und drückend gewesen und weil zur gewohnten Frosch-Fütterungszeit ein intensiver Gewitterregen niederging, fiel diese aus. Moosmann war es recht. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr so unwohl gefühlt wie jetzt. Der blauschwarze Schorf hatte sich in den letzten Stunden bis zur rechten Schulter hinauf ausgedehnt, wenn auch völlig schmerzlos und als Moosmann sich das Hemd auszog, entdeckte er auf seiner Brust kleine gelbliche Pickel mit einem orangefarbenen Ring. Er fühlte bei diesem Anblick eine panische Angst in seinen Eingeweiden, die mit jeder Minute stärker wurde. Verdammt, dachte er, was passiert da mit mir? Er überlegte, ob er, wenn der Regen nachließ, nach Hause gehen sollte. Aber Moosmann war schon einige Zeit nicht mehr in seiner Wohnung gewesen. Er hatte Martha auch nicht mit dem Handy angerufen, weil der Akku leer war und er das Ladegerät daheim vergessen hatte. Er fürchtete sich vor Marthas Vorwürfen. Außerdem fühlte er sich sehr schwach und wackelig auf seinen o-förmigen Beinen. Ihm schien, als ob sich seine Knie in den letzten Stunden nach außen gedreht hätten. Sie schmerzten und das Gehen machte ihm Schwierigkeiten.

Am nächsten Morgen schien die Sonne wieder. Es war Tag drei nach dem Biss.

Moosmann stand vor der Hüttentür, riss die Arme nach oben und gähnte herzhaft. Ein tiefes röhrendes Quaken drang dabei aus seiner Kehle.

Von nun an ging alles sehr schnell. Am Morgen des vierten Tages merkte Moosmann, dass seine kniekurzen Jeans viel zu lang geworden waren und ihm beim Laufen im Weg waren, so dass er ständig stolperte. Er zog sie aus und ließ sie achtlos auf dem Weg liegen. Ein paar Stunden später ertrug er auch das blaue Hemd auf seiner Haut nicht mehr, weil es wie Feuer brannte und er zog es aus, was ihm eine große Anstrengung abverlangte. Den ganzen Tag über hatte er schreckliche Rückenschmerzen, die kaum auszuhalten waren. Zu Beginn der Nacht entdeckte er, dass seine Arme und die Hände geschrumpft waren und ihm Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen wuchsen. Als er am Morgen des fünften Tages erwachte—er hatte die halbe Nacht im Teich verbracht, weil er die Hitze, die seinen Körper anfallartig überfiel, nur im Wasser ertrug—da stellte er fest, dass seine Zähne ausgefallen waren und er kein Haar am Körper mehr besaß. Seine Haut war borkig und blauschwarz geworden wie die der Frösche.

Als die Sonne am Tag fünf nach dem Biss unterging humpelte Moosmann auf kleinen gekrümmten Beinen trotz furchtbarer Schmerzen in jedem Teil seines geschundenen Körpers wieder zum Teich und merkte, dass die weiße Holzbank auf einmal viel zu hoch für ihn war. Ich bin geschrumpft, dachte er entsetzt. Was geschieht mit mir? Während des Tages hatte sich sein Brustkorb mehr und mehr nach vorn gewölbt. Er leuchtete in hellem orange und seine ehemals braunen menschlichen Augen waren gelb geworden und hatten riesige schwarze Pupillen. Mit dem letzten Rest seines menschlichen Verstandes begriff er, welche Verwandlung er durchmachte: Er wurde ein Frosch!

Am Tag sechs erwarteten sie ihn im Morgengrauen. Sie hockten erwartungsvoll auf den Seerosenblättern und die männlichen Frösche röhrten und quakten laut. Moosmann freute sich überschwänglich, denn die Schmerzen waren verschwunden, er fühlte sich gut und das allererste Mal in seinem Leben verstand er was die Frösche riefen:

Wir grüßen Dich, Froggi-Boss, quakten sie im Chor. Sogar der bissige Alpha-Frosch war mit dabei. Schlaue Kerlchen, dachte Moosmann bewundernd. Sie kennen sogar meinen Spitznamen. Er kauerte vor seiner Bank und hörte ihnen fasziniert zu.

Komm herein zu uns Froggi-Boss, röhrten sie. Wir haben lange auf dich gewartet.

Sie sahen ihn auffordernd an.

Moosmann zögerte.

Komm schon, trau dich Froggi-Boss, quakten sie.

Mach schon Froggi-Boss, röhrte der Alpha-Frosch, spring endlich Kumpel! Spring!

Da tappte Moosmann über die grauen Steinplatten ans Wasser und glitt hinein in den Teich. Und während er auf die sieben Frösche zuschwamm, als wäre er schon immer einer der ihren gewesen, vergaß er von einem Augenblick zum anderen seine ehemals menschliche Natur.

Finale

Anfang Oktober kam Martha Moosmann aus Mallorca zurück. Schon als sie aus dem Taxi stieg, sah sie den überquellenden Briefkasten. Auch vor ihrer Wohnungstüre stapelten sich Briefe, alte Zeitungen und Werbebeilagen, die wohl ein umsichtiger Nachbar dort für sie abgelegt hatte. Sie schloss die Türe auf, roch abgestandene Luft, stellte naserümpfend ihr Gepäck ab und schaute in alle Räume.

Froggi?

Froggi war nicht da. Hab ich auch nicht erwartet, dachte sie. Als sie den Kühlschrank kontrollierte sah sie, dass die Lebensmittel, die sie vor ihrer Abreise nach Mallorca für Froggi eingekauft hatte, noch darin aber inzwischen längst abgelaufen und ungenießbar waren, woraus sie schloss, dass Froggi schon lange nicht mehr zuhause gewesen war. Weil er sie auch nie angerufen hatte und sie selbst stets nur die Mailbox seines Handys erreicht hatte, begann sie sich gegen Abend, als der erste Zorn auf den Gatten vorüber war, doch Sorgen zu machen und beschloss, am nächsten Tag in die Gartenanlage zu gehen um zu sehen, ob er dort wäre und wenn ja, ihm gehörig den Marsch zu blasen.

Es war Mittagszeit als Martha Moosmann die Schrebergartensiedlung betrat. Weil sie noch nie hier gewesen war, wusste sie nicht, wo Froggis Parzelle lag und sie lief eine Weile die kiesbestreuten Wege auf und ab auf der Suche nach jemand, der ihr darüber Auskunft geben könnte. Dummerweise hatte sie ihre hochhackigen Schuhe angezogen und so taten ihr bald die Füße weh. Sie wollte schon umkehren, um nach Hause zu gehen, da entdeckte sie einen braungebrannten Alten, der Laub in seinem Garten zusammenfegte. Er beschrieb Martha den Weg. Das Tor rechts, das mit der abgebrochenen Spitze am Ende der Anlage, sagte der Mann und zeigte Martha die Richtung. Martha fand das Tor, es war nicht abgeschlossen und sie trat ein. Sie lief vorbei an Tomatenstauden, an denen verfaulte Früchte hingen, an Bohnenstangen voll vertrocknetem Laub, vorbei an wild wuchernden Kräuterbeeten, vorbei an Sträuchern mit eingetrockneten Johannisbeeren, an Beeten mit in die Höhe geschossenem Salat. Es hatte wohl schon einige Tage nicht mehr geregnet und alles sah welk und verkommen aus. In und zwischen den Beeten hatte sich das Unkraut ausgebreitet. Als Martha den schmalen Weg zu der rosenumrankten Gartenhütte hinauf lief, sah sie Froggis alte Jeans auf der Erde liegen und ein Stück davon entfernt sein fadenscheiniges blaues Unterhemd. Die Hüttentür stand offen. Martha stellte die umgeworfene Sonnenliege wieder auf und schaute in die Hütte hinein. Eine Spur von eingetrocknetem Erbrochenem zog sich durch den kleinen Raum über die schmalen Leitersprossen bis hinauf in den Spitzgiebel. Auf dem Tisch stand eine Schüssel übelst verschimmelter Himbeeren und aus dem Bereich hinter der Hütte wehte ihr durch ein kleines offenstehendes Fenster der üble Gestank des Komposthaufens entgegen.

Froggi, rief Martha, Froggi, bist du da?

Sie begann sich nun doch ernsthaft zu sorgen und kletterte die Leiter hinauf, bis sie die alte Matratze sehen konnte, auf der Moosmann geschlafen hatte. Auch hier Erbrochenes, ein paar blutige Zähne, Büschel schwarzer Haare und eine breite eingetrocknete grüne Schleimspur. Martha schüttelte sich vor Ekel.

Froggi?

Sie schaute sich um, aber der üble Geruch in der Hütte vertrieb sie schnell und sie ging, weil sie Froggi nicht fand, nun eher wütend als besorgt zurück.

Froggi?

Als sie nur noch ein paar Schritte vom Gartentor entfernt war, knickte sie mit dem linken Fuß um. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sie sich den Knöchel und sah dabei aus den Augenwinkeln die weiße Bank am Teich, die ihr vorher nicht aufgefallen war. Sie hinkte darauf zu und setzte sich.

Die Herbstsonne schien noch warm und Martha gefiel der Platz am Teich. Blätter trieben auf der Wasseroberfläche.

Froggi?

Zwischen der Sumpfcalla und den hochgewachsenen dichten Rohrkoben lagen die Frösche und beobachteten die Frau. Martha Moosmann schloss die Augen. Sie genoss die wärmenden Sonnenstrahlen und dachte zurück an die Urlaubstage mit Freundin Anke. Während sie tagträumend vor sich hindöste, verließ der größte der Frösche den Teich, hüpfte vorsichtig an sie heran und beobachtete sie. Sie bewegte sich nicht, saß einfach nur still da. Da sprang er vor, umklammerte ihre rechte Wade und biss kräftig hinein.

Der neuerliche Schmerz war schrill, heiß und unerträglich. Martha riss die Augen auf und erblickte einen riesigen blauschwarzen Frosch mit orangefarbener aufgeblähter Brust und gelben Augen, die sie herausfordernd anstarrten. Sie trat nach ihm und er verschwand im Teich. Als sie an sich herunterschaute entdeckte sie Blut an ihrem Bein, das in den Schuh lief und den rosafarbenen Fleck um die Bisswunde, der sich rasend schnell ausbreitete und immer dunkler wurde und sie begann laut und hysterisch zu schreien.

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Petra Koch 2015

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