Karl's Geheimnis

Niemals hätte ich gedacht, dass Karl ein Geheimnis hat! Und noch weniger, dass ich diesem Geheimnis eines Tages auf die Spur kommen würde. Karl war für mich immer der Inbegriff von Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit. Er war ein großer schlanker Kerl mit blauen Augen und hellblondem Haar, freundlich, verständnisvoll und hilfsbereit. Er war stets gutgelaunt und mit sich und seinem Leben zufrieden. Er führte eine gute Ehe, war ein angenehmer Nachbar und vor allem war er mein Freund. Ein Mann mit solch angenehmen Charakterzügen konnte einfach kein Geheimnis haben, zumindest nicht so eines.

Ich kenne Karl seit meiner Einschulung in die Sexta des Gymnasiums. Karl ist drei Jahre älter als ich und weil ich in der Quinta schlecht in Mathe und Englisch war, was meine Versetzung gefährdete, gab er mir auf Bitten meiner Eltern Nachhilfestunden. Dadurch lernten wir uns näher kennen und wurden Freunde. Wir haben später an derselben Universität studiert, für den gleichen Typ Mädchen geschwärmt. Karl studierte Physik, ich Rechtswissenschaften. Heute bin ich Anwalt mit einer eigenen Kanzlei und vier Angestellten. Nach der Uni ging Karl ins Ausland, ich blieb in unserer Stadt. Wir hatten kaum noch Kontakt miteinander. Wir machten Karriere, er in Amerika, ich hier. Wir heirateten, bekamen Kinder.

Nach der Geburt unserer Zwillinge Kai und Karen, kauften Helen und ich ein Haus in der neuen Siedlung am Stadtrand. Karl kehrte zurück aus den USA und erwarb das Haus nebenan, ein reiner Zufall, der uns beide wieder zusammenführte und so wohnen wir nun Zaun an Zaun, seit vielen Jahren. Karl und Claire bekamen eine Tochter, Sarah. Unsere Kinder wuchsen zusammen auf, die beiden Frauen waren sich sympathisch. An den Sommerabenden sitzen wir zusammen beim Barbecue, manchmal fahren Karl und ich zum Angeln an den Silberwaldsee, wo Karl eine Hütte besitzt. Im Winter philosophieren wir bei Glühwein und Keksen über Gott und die Welt an Karls Kamin. Wir Männer besuchen den gleichen irischen Pub in der Nähe, sind begeisterte Fans des gleichen Fußballclubs, haben dieselbe politische Überzeugung. Karl war Claire stets treu, während ich ab und zu in eine Affäre schlitterte, was er nicht guthieß, aber dennoch deckte. Bisher konnte ich mit Recht behaupten, Karl sehr gut zu kennen. Wie ein offenes Buch war er für mich. Doch jetzt ist Karl eher zu einem unlösbaren Rätsel für mich geworden.

Karl ist seit seiner Rückkehr aus den USA bei SEMTEC beschäftigt, einem Unternehmen, das für die Regierung arbeitet. Als ich ihn eines Tages fragte, was er dort tut, berief er sich auf seine unterzeichnete Verschwiegenheitsklausel und blieb mir die Antwort schuldig.

Karls Büro liegt im Hochsicherheitstrakt innerhalb des Firmengeländes und kann nur mit einer speziell modifizierten Codekarte betreten werden. Bei meinem einzigen beruflich motivierten Besuch in seinem Büro vor zwei Jahren wurde ich von zwei Sicherheitsleuten mit Pistole auf Schritt und Tritt begleitet. Nach einer halben Stunde stand ich wieder draußen vor dem Tor. Ich fühlte mich, als wäre ich einem Gefängnis entkommen.

Kurze Zeit nach meinem Besuch bei SEMTEC begann Karl sich zu verändern. Von einem Tag zum anderen ist er kalt, abweisend. Er meidet dann den Kontakt mit mir, wochenlang. Er grüßt weder mich noch Helen, meidet die Öffentlichkeit, spielt nicht mit den Kindern, er wirkt, als stecke er in einer tiefen Depression. Dann von heute auf morgen ist er wieder der alte, der Freund, der meine Nähe sucht, der mich in den Pub schleppt, mich zum Grillen im Garten einlädt, mal schnell mein Auto mitwäscht, mir seine ausgelesenen Magazine vorbeibringt. Er ist dann eine Zeitlang wie früher. Die gefühlsmäßige Achterbahn scheint mit seinen Geschäftsreisen zusammenzuhängen. Laut Claire hinterlässt Karl zuhause nie Angaben über seine Aufenthaltsorte, die Hotels, in denen er logiert oder seine genaue Rückkehr. Die Veränderung an Karl ist stets am offensichtlichsten, wenn er von einer dieser Reisen zurückkehrt. Der freundliche Karl reist ab, der mürrische Karl kehrt zurück oder andersherum, der mürrische geht und der freundliche kommt heim. Es gab Momente in der jüngeren Vergangenheit, da war ich überzeugt, zwei völlig unterschiedliche Personen vor mir zu haben, dass Karl zweimal existiert. Helen meint, Karl sei wie immer und er habe das Recht, knurrig und unansprechbar zu sein, wenn ihm danach ist. Obwohl mich Karls wechselhaftes Verhalten sehr irritiert und ich mir echte Sorgen um ihn mache, habe ich Claire nie gefragt, was mit Karl los ist, ob sie bemerkt hat, dass Karl nicht mehr Karl ist. Ich wollte sie nicht beunruhigen. Doch das war sie schon lange, ohne dass ich es ahnte.

Kannst Du mal rüberkommen zu mir, Will, rief Claire mir vorletzten Samstag über den Zaun zu. Ich stellte den Rasenmäher ab.

Sicher, Claire, was hast Du auf dem Herzen? Claire sah aus, als mache ihr etwas ziemliche Sorgen. Sie hatte in letzter Zeit dunkle Ringe unter den Augen und sah irgendwie kraftlos aus. Was kann ich für Dich tun?

Karl geht wohl bald wieder auf Geschäftsreise!

Kann sein, Claire, das ist doch nichts besonderes. Das tut er doch immer.

Claire sah mich an.

Schon, sagte sie.

Was ist los Claire, rede nicht um den heißen Brei.

Ich glaube, er hat etwas mit einer anderen Frau.

Karl? sagte ich, das kann ich nicht glauben, das würde Karl niemals tun. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.

Du würdest sie kräftig verbrennen, Will, sagte sie leise, zog ein Taschentuch aus der Schürze und begann sich zu schneuzen.

Bist Du sicher, Claire?

Ganz sicher!

Wieso?

Ich habe in seinem grauen Sakko die Getränkerechnung einer Bar gefunden.

Odwyers? fragte ich, denn das ist der Pub, in dem Karl, der fröhliche Karl und ich öfter einkehren.

Nicht Odwyers, sagte sie, Red Moon, dieser Schuppen, Du weißt schon.

Ja, ich weiß. Das Red Moon liegt im Norden der Stadt, auf einem Gelände, das als Industriegebiet ausgewiesen ist, auf dem sich aber kein Gewerbe mehr ansiedelt.

Die Bauarbeiten am Red Moon hatten vor vier Jahren begonnen und sich endlos hingezogen. Kein Bürger wusste was dort draußen eigentlich entstehen sollte. Die Stadtverwaltung gab darüber keinerlei Auskunft. Die Baugrube war von einem riesigen uneinsehbaren Zaun umgeben, der Tag und Nacht von Sicherheitsleuten mit Hunden bewacht wurde. Außerdem hatte man überall rund um das Gelände Überwachungskameras installiert, was für ein einfaches Bauprojekt ungewöhnlich war. Als vor dreizehn Monaten der Zaun endlich fiel, befand sich auf dem riesigen Areal nur ein schmuckloser ebenerdiger Betonbau. Wenig später wurde das Red Moon eröffnet. Wer immer hinkam, um seine Neugier zu befriedigen wunderte sich, was an diesem primitiven Schuppen eine so lange Bauzeit rechtfertigte.

Im Red Moon gab's Tabledance. Im Red Moon, so hieß es, verkehre zwielichtiges Gesindel, Zuhälter, Kriminelle, Rocker, Junkies. Im Red Moon, so tuschelte man, könne man Drogen kaufen und schnellen Sex. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der rechtschaffene, aufrichtige Karl je im Red Moon gewesen war. Aber wenn Claire Beweise dafür hatte?

Und was soll ich nun tun, Claire? Soll ich mit ihm reden?

Ich konnte Claire bei dieser Frage nicht in die Augen sehen. Ich dachte daran, dass Karl meine eigenen Affären seit Jahren stillschweigend deckte. Ich würde ihn, was die Red-Moon-Besuche betraf, so sie je stattgefunden hatten, nicht im Stich lassen. Das war ich ihm schuldig.

Nein, sagte Claire, nicht reden. Er ist derzeit so kalt und wortkarg, das gäbe nur Streit zwischen euch. Kannst du ihn nicht beobachten, wenn er das nächste Mal auf Geschäftsreise geht? Einfach hinter ihm herfahren und sehen was er tut, wohin er fährt? Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus. Sie macht mich krank.

Ich sah es ihr an. Wir einigten uns darauf, dass ich Karl in einem Mietwagen mit entsprechendem Abstand folgen würde. Claire versprach mich zu informieren, sobald Karl anfing, seine Sachen zu packen.

Ein paar Tage nach diesem Gespräch rief Claire mich an:

Er packt, heimlich, sagte sie. Es ist soweit.

Das zweite Juliwochenende stand vor der Tür und das traf sich gut. Ich brauchte keine Termine wahrzunehmen und konnte mein Versprechen einlösen. Sofort orderte ich den Mietwagen und fuhr ihn in die Garage. Als Karl am Samstag um die Mittagszeit seinen Van belud, den er in der Auffahrt geparkt hatte, stellte ich mich an das kleine Garagenfenster und beobachtete ihn heimlich durch mein Fernglas. Er trat aus dem Haus in blauer Hose, hellem Hemd mit Krawatte, ein graues Sakko über dem linken Arm. Seinen silbernen Samsonite trug er in der rechten Hand. Ich stellte das Fernglas scharf um besser sehen zu können. Karl öffnete den Kofferraum und hievte sein Gepäck hinein. Da Karl, wenn er mürrisch war, jeden Kontakt mit mir vermied, fiel mir erst jetzt beim Blick durch das Fernglas auf, dass das große braunrote Muttermal in Form eines Drachens auf seiner rechten Wange, nicht mehr vorhanden war. Dieses Muttermal hatte ihm während seiner Schul- und Studienzeit viel Spott eingetragen. Wenn ich ihn damals fragte, warum er das auffällige Mal nicht entfernen lässt, um sich das Gehänsel seiner Kommilitonen zu ersparen, antwortete er stets: Warum sollte ich? Es stört mich nicht im geringsten. Das hatte sich nun wohl geändert. Es war weg und keine Narbe war zu sehen. Seine Wange war völlig glatt.

Claire kam aus dem Haus um sich zu verabschieden, doch er beachtete sie gar nicht. Er öffnete die Fahrertüre, sah einen Moment lang zu meinem Grundstück herüber, als hätte er bemerkt, dass ich ihn beobachte, dann stieg er ein, startete und fuhr davon.

Ich sprang in den Wagen, warf den Motor an und folgte dem Van mit Abstand.

Es war so wie Claire vermutet hatte:

Karl parkte den Van vor dem Red Moon und stieg aus. Er holte den Koffer und ging zielstrebig auf den Eingang zu. Vor der Türe sah er sich eilends um und verschwand dann im Innern. Ich verließ den gemieteten Wagen und folgte ihm in gebührendem Abstand. Als ich unter dem roten Baldachin an der Eingangstüre des Red Moon stand, sah ich das Schild mit den Öffnungszeiten: von 16.00 Uhr nachmittags bis 5.00 Uhr früh, las ich. Es war jetzt 14.58 Uhr. Da Karl hineingegangen war, musste das Lokal bereits offen sein, also drückte ich die Klinke nieder. Der Raum lag im Halbdunkeln. Ich war wohl heute der erste Gast, abgesehen von Karl, dem wortkargen miesepetrigen Karl, der gerade durch eine breite Doppeltür verschwand, die seit längerem als Werbefläche diente. Sie war von oben bis unten mit bunten Plakaten beklebt. Über zwei Billardtische hinweg schaute ich Karl nach.

Was darf ich dir zu trinken bringen, Fremder, sprach mich eine hübsche Blondine an. Sie war wohl die Barfrau. Ich drehte mich zu ihr um.

Ein helles Bier, antwortete ich, noch ganz in Gedanken. Erklärte heimliches Glücksspiel in einem Hinterzimmer dieser Bar etwa Karls Wesensänderung? Etwa so: verliert Karl eine Menge Geld, reagiert er darauf depressiv und maulfaul, gewinnt er, ist er ist aufgekratzt und fröhlich? Nein dachte ich, das passt nicht zu Karl, da steckt etwas anderes dahinter.

Meine Augen hatten sich mittlerweile an das Dämmerlicht gewöhnt. Die meisten Stühle standen noch auf den Gästetischen, als hätte jemand vor kurzen den Fußboden gewischt.

Das Bier kam. Ich setzte mich auf einen Hocker an die Bar, ein bisschen schräg, so dass ich die Tür mit der Werbung im Auge behielt. Die Blondine machte höflich Smalltalk mit mir, während ich das Glas an die Lippen setzte.

Innerhalb der nächsten zehn Minuten öffnete sich dreimal die Eingangstüre des Red Moon und herein kamen ein dürrer alter Kerl mit ärmlicher zerknitterter Kleidung und fettigem langem Haar, das er zu einem Zopf geflochten hatte, ein großer Kerl in dunkler Rockerkluft, dessen nackte Arme vom Handgelenk bis zu den muskulösen Schultern mit Rosen und Totenköpfen tätowiert waren und ein etwa siebzehnjähriger Junge in einem gepflegten schwarzen Anzug mit schreiend roter Krawatte. Sie alle würdigten die Barfrau und mich keines Blickes, sondern eilten auf die Tür zu, hinter der Karl verschwunden war.

Gerade als ich der Barfrau das geleerte Glas zuschieben und "noch eines bitte" sagen wollte, spürte ich unter meinem rechten Fuß, der den Boden berührte, ein leises Zittern, so als würde ein Dreißigtonnen-Truck auf der Straße vorbeidonnern, was unmöglich war, denn die Straße an der das Red Moon lag, war schmal wie ein Feldweg, schlecht asphaltiert und endete nach einer halben Meile im freien Gelände. Ich sah auf die Uhr. Es war 15.20 Uhr. Das Zittern unter mir verstärkte sich, der Boden begann zu schwanken und ich sprang vom Hocker. Die Gläser im Regal über der Bar, die Flaschen mit den Spirituosen, alles begann aneinander zu klingen. Die Blondine hinter der Bar lächelte unbeeindruckt vor sich hin, polierte ein Whiskeyglas und stellte es neben sich ab. Über der noch unbeleuchteten Tabledance-Bühne flackerten die bunten Lampen.

Ein Erdbeben, stieß ich zwischen den Lippen hervor.

Keine Sorge, sagte sie, die Heizung im Keller ist gerade angesprungen.

Das klingt nicht wie eine Heizung, sagte ich. Im Juli, bei mindestens dreißig Grad im Schatten heizt doch niemand der bei Verstand ist.

Die Blondine hob uninteressiert die Schultern, gab aber keine Antwort.

Das Beben dauerte schon mindestens eine Minute und nahm an Stärke zu. Die Kugeln auf dem Billardtisch setzten sich von allein in Bewegung und stoben hin und her. Ich rutschte von meinem schwankenden Barhocker.

Setzen sie sich wieder, sagte die Barfrau, es ist gleich vorbei.

Ich wollte mich nicht setzen. Ich wollte das Lokal verlassen, aber die Blondine kam um den Tresen herum und drückte mich mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hätte, zurück auf meinen Sitz.

Sie bleiben hier, sagte sie nachdrücklich. In ihren Augen blitzte etwas auf, das keinen Widerspruch duldete.

Von unten ertönte jetzt ein furchteinflößendes, grollendes Geräusch, das in ein unangenehmes Pfeifen und dann in ein langgezogenes dumpfes Fauchen überging.

Ich klammerte mich an mein leeres Bierglas. Sie nahm es mir ab und schob mir das zweite Helle zu.

Trinken Sie, sagte sie mit eiskalter Stimme. In ihren Augen sah ich ein gefährliches Flackern. Ich setzte gehorsam das Glas an meine Lippen. Da war etwas in ihrem Blick, das ich nicht ertrug.

Zweiundzwanzig Minuten dauerte das Grollen und Zittern. Es endete um 15.42 Uhr. Dem Grollen folgte eine lange Stille. Der große Deckenventilator schaltete sich ein und fächelte kühle Luft in den Gastraum. Mein zweites Glas Bier war zur Hälfte geleert, da öffnete sich die mit Werbeplakaten beklebte Tür wieder und der Jugendliche kam heraus. Statt des schwarzen Anzugs mit roter Krawatte trug er jetzt modisch ausgefranste Markenjeans, ein weißes Shirt mit Label, nagelneue Laufschuhe und eine Baseballkappe der Detroit Tigers. Er schaute zu uns herüber, lächelte, hob seine Hand an die Schläfe zu einem militärischen Gruß und verschwand nach draußen.

Dem Jungen folgte der zerknitterte Alte. Man hätte meinen können, er wäre in einen Jungbrunnen gefallen. Sein vorhin fettiges, ungepflegtes, zu einem Zopf gebundenes Haar, trug er jetzt offen. Es war etwas kürzer, glänzte und schien frisch gewaschen zu sein. Auch die Kleidung des Alten schien gerade eine Frischekur überstanden zu haben. Sie war zwar noch dieselbe wie bei seinem Hereinkommen, doch makellos glatt als hätte man sie zwischenzeitlich gebügelt. Der Alte nickte der Barfrau kurz zu und eilte zum Ausgang.

Ein drittes Mal öffnete sich die Tür und der bullige Rockertyp erschien, in heller Lederkluft. Ich traute meinen Augen kaum: alle seine Tätowierungen waren verschwunden, als ob es sie nie gegeben hätte. Auch er grüßte militärisch zackig, die blonde Barfrau erwiderte seinen Gruß auf gleiche Weise und dann verschwand auch er in der Hitze des Spätnachmittags.

Ich öffnete meinen Mund, um der Barfrau ein paar Fragen zu stellen, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf und drehte mir den Rücken zu. Ihre Bluse war hochgerutscht und ich sah zum ersten Mal den Revolver in ihrem hinteren Rockbund. Ich machte den Mund wieder zu. Man kann ja nie wissen.

Die Barfrau nahm die restlichen Stühle von den Tischen. Der Geschäftsbetrieb im Red Moon begann. Draußen erklang Motorengeräusch.

Ich dachte nach. Nicht nur der Revolver im Rockbund beunruhigte mich, sondern die ganzen Vorkommnisse der letzten Stunde. Hier im Red Moon ging außerhalb der Öffnungszeiten etwas seltsames vor sich. Würde auch Karl zurückkommen wie die anderen drei? Sollte ich noch bleiben oder gehen? Unschlüssig drehte ich mein Bierglas in den Händen. Die Eingangstüre öffnete sich und ein paar junge Leute kamen lärmend herein. Sofort nahmen sie die Billardtische in Beschlag und begannen ein Spiel. Okay, dachte ich, jetzt wo ich nicht mehr allein bin warte ich noch eine Weile. Über der Tabledance-Bühne gingen die Lichter an. Musik erklang. Ein paar Gäste kamen, der Laden füllte sich langsam. Ich wurde nervös und schaute viel zu oft auf die Uhr. Um 16.15 Uhr bestellte ich mir einen Espresso. Ununterbrochen fixierte ich die plakatierte Doppeltür. Endlich, um16.32 Uhr wurde meine Geduld belohnt: Die Tür öffnete sich wieder und Karl erschien. Ich registrierte alles blitzschnell:

Kein silberner Samsonite, keine blaue Hose, kein graues Sakko, kein helles Hemd. In seinen alten Lieblingsjeans, einem rosafarbenen Hemd mit offenem Kragen, den dunkelblauen Kaschmirpulli, Claires letztjähriges Weihnachtsgeschenk, lässig über der Schulter, so blieb er zwei, drei Sekunden unter der geöffneten Tür stehen, entdeckte mich an der Bar und zuckte zusammen. Er trug seine alten weinroten Mokassins aus den Siebziger Jahren, von denen er sich nicht trennen konnte. Kein Zweifel, das war Karl, der heitere, liebenswerte, der mein Freund war.

Sein Erstaunen über meine Anwesenheit im Red Moon stand ihm ins Gesicht geschrieben. Einen Moment sah es so aus als wolle er sich auf dem Absatz umdrehen und wieder verschwinden. Dann besann er sich, setzte sein altes breites Lächeln auf und kam auf mich zu.

Will, sagte er, welche Überraschung, dich zu sehen. Was machst du hier im Red Moon? Er boxte mich freundschaftlich in die Seite.

War ich ihm eine Erklärung schuldig? Wohl kaum.

Mach mir auch einen Kaffee Brenda, sagte Karl zu der Blondine, doppelt und stark.

Gleich, sagte sie.

Brenda nennt er sie, dachte ich, eindeutiges Indiz, er ist schon oft hier gewesen.

Sag schon Will, was machst du im Red Moon, fragte er mich. Dasselbe könnte ich dich fragen, antwortete ich. Brenda schob ihm den Kaffee zu. Karl warf vier Stücke Würfelzucker in die Tasse und rührte eine halbe Ewigkeit schweigend um, bis der Kaffee fast kalt war. Ich ahnte, dass er über die Situation nachdachte, dass er nach einer halbwegs plausiblen Erklärung für mich suchte und schwieg.

Eine halbnackte junge Tänzerin erschien und begann ihre Show an der Stange.

Wollen wir angeln fahren, rauf an den See, fragte Karl schließlich. Bei der Hitze beißen die Fische besonders gut. So ein Männerwochenende hatten wir schon lange nicht mehr.

Sein Vorschlag war gut. Ich hatte ohnehin keine Lust jetzt schon nach Hause zu gehen, wo Claire eine Auskunft von mir erwartete, die ich nicht geben konnte und Helen war mit den Zwillingen zur Großmutter gefahren. Sie würden erst Montagfrüh zurückkommen.

Können wir machen, antwortete ich, ich habe Zeit.

Gehen wir? fragte Karl. Ich zahlte meine Rechnung. Karls Kaffee ging aufs Haus und wir verließen gemeinsam das Red Moon. Vor der Türe legte Karl seinen Arm um meine Schulter und lenkte mich in Richtung seines Van.

Bei unserem nächsten Besuch im Red Moon werde ich dir etwas Unglaubliches zeigen, sagte er lächelnd, du wirst staunen.

Du bist es mir schuldig, Karl, sagte ich und bereute meine Worte sofort.

Okay, antwortete er, kannst dich auf mich verlassen.

Mir war auf einmal sehr unbehaglich zumute.

Worauf ließ ich mich ein? Welchen Preis würde ich zahlen müssen, damit ich Karls Geheimnis erfuhr?

Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz und legte den Gurt um. Karl fuhr den Van vom Parkplatz auf die schmale Straße, die vom Red Moon wegführte. Ich schaute ihn von der Seite an, konnte meinen Blick nicht von seiner rechten Wange lösen. Das große braunrote drachenförmige Muttermal war wieder da.

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Petra Koch 06/2011

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