Kellerkind

Es ist dunkel.

Und kalt. Eiskalt.

Gertie kauert auf dem Lehmboden des Kellers. Sie hat die Beine angezogen und den Kopf auf die Knie gelegt. Sie zittert am ganzen Körper.

Die Kälte kommt aus der Erde, sie ist schon über Gerties Zehen, die Füße, die Waden und die Oberschenkel hinauf bis in ihren Bauch gekrochen. Ihr Bauch fühlt sich an, als wäre er voll Eis, wie der im Winter zugefrorene Teich. Gertie will sich bewegen, sie weiß, wenn sie sich bewegt, wie beim Hüpfen mit dem Springseil, wird ihr warm. Aber Gertie kann sich nicht bewegen. Die Angst hat sie steif gemacht, die Angst vor der Dunkelheit, vor dem Blubbern aus dem Loch unter der Treppe, die Angst vor den Spinnen, die sich manchmal von der Kellerdecke fallen lassen, direkt auf ihren Kopf.

Es ist kalt.

Eiskalt.

Die Kälte kriecht durch Gerties mageren Bauch in die Brust und über die Schultern in den Hals hinauf. Gertie krümmt sich, sie will sich ganz klein machen. Wenn ich klein wäre wie eine Fliege, dann könnte ich durch die Ritzen zwischen den Brettern kriechen, die der Stiefvater von außen vor das zerschlagene Kellerfenster genagelt hat, denkt sie. Doch sie ist nicht klein. Sie ist schon fast sechs und kommt nächstes Jahr in die Schule. Und sie sitzt seit Stunden hier unten im Keller und friert. Der Stiefvater hat ihr heute nicht einmal ihr langärmeliges Sweatshirt gelassen, nur das Hemdchen und die kurze Hose. Die blauen Sandalen hat sie verloren, als er sie die steile Steintreppe zum Keller hinunter gestoßen hat. Sie hat sie nicht wiederfinden können in der Dunkelheit, obwohl sie lange Zeit auf dem Boden herum gekrochen ist, um sie zu suchen.

Kalt. Eiskalt. Gerties Zähne klappern aufeinander, obwohl ihre Stirn heiß ist, als brenne ein Feuer dahinter. Und sie hat Hunger. Sie hat seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Aber mehr noch als Hunger hat sie Angst. Angst, dass etwas Schlimmes passiert, dass sie niemehr aus diesem Keller herauskommt und hier unten in der Dunkelheit sterben muss.

Sie denkt an den Apfel, den sie einmal auf dem Kellerboden gefunden hat. Jetzt sind schon lange keine Äpfel mehr da. Auch keine Kartoffeln. Als Mama noch im Haus war, gab es Äpfel und Kartoffeln im Keller und noch viele andere schöne Sachen. Sie durfte Mama begleiten, wenn die herunterstieg, um das Eingemachte in die Regale zu stellen oder wenn sie Kartoffeln für Pommes holten. Halt dich am Geländer fest, Gertie, hat Mama dann gesagt, und pass auf, dass du nicht fällst. Das ist schon lange her. Jetzt hat die Treppe kein Geländer mehr. Der Stiefvater ist dagegen gefallen, dabei ist es zerbrochen. Er hat das Geländer abgemacht und das Holz im Kamin verbrannt. Das war kurz nachdem Mama mit dem Auto weggefahren und nicht mehr heimgekommen ist, obwohl sie ihr doch Schokolade mitzubringen versprochen hatte. Damals konnte man draußen noch Schlitten fahren. Und jetzt gibt es bald neue Kartoffeln und neue Äpfel und Birnen.

Der Stiefvater hat ihr gesagt, dass Mama im Himmel ist bei Papa und er hat dabei fürchterlich geflucht. Sein Atem roch schlecht und er fuchtelte mit einer Flasche herum. Er haute mit der Faust auf den Tisch und seine Augen verdrehten sich, bis man das Weiße darin sehen konnte. Das war an dem Tag als sie die Kaulquappen im Teich entdeckt hatte.

Gertie fürchtet sich vor dem Stiefvater, wenn er schlecht riecht und das scharfe Wasser aus der Flasche trinkt. Er redet dann Sachen, die sie nicht versteht. Er sagt, sie muss machen, was Mama nicht mehr tun kann. Er schließt dann die Hintertür ab, damit sie nicht aus dem Haus laufen kann und er greift nach ihr und zieht sie auf seinen Schoß. Er hält ihr den Mund zu, um zu verhindern, dass sie schreit und er will, dass sie Dinge tut, die sie nicht tun will.

Und er singt dabei das Lied, das schlimme Lied.

Veilchen sind blau, Rosen sind rot,

sitzt du im Keller, bist du bald tot.

Das Lied ängstigt Gertie so sehr, dass sie kaum mehr atmen kann, wenn sie es hört. Aber noch mehr als das Lied ängstigt sie, was der Stiefvater mit ihr machen will. Es tut ihr weh. Sie versucht dann, nicht auf das Lied zu hören. Sie kratzt ihn und versucht, mit dem Zeigefinger in seine Augen zu stechen, damit er sie losläßt. Wenn es ihr gelungen ist, von seinem Schoß herunterzukommen, endet es jedesmal damit, dass er die Kellertüre öffnet und sie die steile Steintreppe hinunterstößt. Sie muss dann aufpassen, dass sie nicht hinfällt und sich die Knie aufschlägt oder über die Kante in das Loch dicht unter der Treppe fällt. Das Loch hat der Stiefvater gegraben. Es ist groß und feucht. Es stinkt faulig und es blubbert darin. Und in dem Erdhaufen daneben raschelt es. Sie fürchtet sich vor dem Loch und setzt sich immer weit weg davon in die Nähe des Fensters, wo es wegen der Ritzen in den Brettern ein bißchen heller ist als anderswo im Keller.

Immer wenn der Stiefvater sie hinabgestoßen hat, verriegelt er die Kellertüre und dann poltert er oben herum, als würde er den Küchentisch umwerfen. Er trinkt das scharfe Wasser und er singt ganz laut das Lied weiter. Das schlimme Lied. Sie kann es durch die Decke hören, selbst wenn sie sich die Ohren zuhält. Das Lied läßt ihr das Blut in den Adern gefrieren und macht ihr erst heiß und kalt und dann nur noch kalt, bis sie sich nicht mehr bewegen kann.

Es lauern die Monster im schwarzen Loch

und willst du auch fliehen, sie kriegen dich doch.

Einmal ist sie die Treppe hoch gekrochen und hat sich gegen die Kellertüre gestemmt, damit sie aufgeht. Aber sie ist noch zu klein und zu schwach dazu. Die Kellertüre aufmachen kann nur der Stiefvater. Er ist groß. Und stark. Und sehr zornig. Noch nie konnte Gertie ihm weiter als bis in diesen Keller entkommen. Auch heute nicht.

Es ist kalt.

So schrecklich kalt. Die Kälte tut weh.

Früher hat sie sich immer in dem alten Küchenschrank neben dem Fenster verkrochen, da war ihr nicht so kalt geworden. Aber der Stiefvater hat ihn umgedreht, mit den Türen zur Wand, sie kann jetzt nicht mehr da hinein. Als er das Loch gegraben hat, hat er auch die alten Decken fort genommen, die in der Ecke lagen und nun kann sie nur noch auf dem feuchten Lehmboden hocken oder auf der untersten Treppenstufe. Aber dort ist das große Loch, in dem die Monster wohnen. Manchmal rasseln die Monster mit ihren Ketten oder sie schmatzen, sie fiepen oder brüllen. Jetzt sind sie leise. Sie schlafen. Gertie kann sie atmen hören. Außer dem Küchenschrank sind nur noch wenige Sachen im Keller. Es gibt nur noch die leeren Regale an der Wand gegenüber der Treppe, zwei Kartons mit Büchern von Mama, die schimmelig riechen, seit das Wasser aus dem Loch den Kellerboden überschwemmt hat, und da drüben, drei Schritte entfernt steht noch die leere Kartoffelkiste.

Gertie ist müde.

So müde. Sie reibt sich mit den Händen die Beine, das kribbelt, als wären tausend Ameisen darin. Sie haucht in die Hände. Gottseidank ist ihr Atem noch warm. Wie eine Wolke fährt er aus ihrem Mund. Die Kälte ist heute noch nicht bis in ihren Kopf gekommen. Das ist gut.

Wenn die Kälte nämlich im Kopf angekommen ist, kann Gertie nicht mehr denken. Dann wird ihr schwindelig und sofort wachen die Monster auf und steigen aus ihrem Loch und

willst du auch fliehen, sie kriegen dich doch

krabbeln zu ihr hin, eines nach dem anderen und fassen sie an mit ihren rauhen Pfoten. Und sie wollen durch ihren Mund und die Nase und die Ohren in sie hinein. Es sind so viele, sie kann sich nicht gegen sie wehren. Deswegen darf sie nicht einschlafen. Wenn sie einschläft, haben die Monster leichtes Spiel und vielleicht passiert dann etwas ganz Schlimmes mit ihr. Gertie weiß, es gibt kein Entkommen, nicht vor dem Stiefvater, nicht vor den Monstern. Es ist aussichtslos.

Gertie sieht auf und bemerkt, dass der schmale Lichtstreifen, der durch das vernagelte Kellerfenster gefallen war, verschwunden ist. Kellerfenster Ist schon Nacht? Gertie beginnt zu weinen. Sie hat unendlich viele Gründe zu weinen: weil Mama fortgegangen und nicht mehr heimgekommen ist, weil nun niemand mehr da ist, der sie lieb hat, weil sie vielleicht niemehr aus dem Keller herauskommt, und hier bleiben muss, bis sie alt ist oder tot. Sie weint, weil ihr ganzer Körper so kalt und starr ist wie Eis, weil ihr der Magen weh tut vor Hunger. Aber sie weint nur ganz leise, damit die Monster im Loch sie nicht hören. Vielleicht hält ja eines Wache, und wartet nur darauf, dass sie einschläft, um die anderen zu wecken. Und dann packen sie zu.

Gertie ist müde.

So müde. Ihr Kopf sinkt zur Seite sinken und Gertie fühlt sich auf einmal, als würde sie auf einem Karussell sitzen. Das Karussell beginnt sich zu drehen. Ein Lied wird gespielt und sie erschrickt. Es ist das schlimme Lied

Veilchen sind blau, Rosen sind rot,

sitzt du im Keller, bist du bald tot.

Es lauern die Monster im schwarzen Loch

Und willst du auch fliehen, sie kriegen dich doch.

Und das Karussell dreht sich in seinem Takt. Langsam. Schnell. Schneller. Rasend schnell.

Gertie wird speiübel vom Drehen und von dem Lied. Das schlimme Lied dröhnt in ihrem Kopf. Sie hält sich beide Ohren zu, um es nicht hören zu müssen, aber das Lied hört nicht auf. Das Lied ist überall im ganzen Keller, wie ein Echo. Das Karussell dreht sich immer wilder und schleudert sie herum. Und das Lied dröhnt dazu und kreischt und kreischt und

- stirbt mit einem einzigen Paukenschlag.

Der Paukenschlag läßt das Karussell stillstehen und Gertie schreckt auf. Hab ich geschlafen? Sie blinzelt, denn ihre Augen wollen sich nicht öffnen lassen. Die Kälte ist in ihrem ganzen Kopf und das Atmen fällt ihr schwer.

Wieder ein Paukenschlag.

Zu spät, denkt sie.

Zu spät.

Während sie schlief sind die Monster erwacht und aus dem Loch gestiegen und nun hocken sie um sie herum, betasten sie, streichen über ihre nackten Arme, die Beine, krabbeln in ihre Ohren und in ihren Mund und von dort in den Kopf hinauf. Sie flüstern miteinander. Gertie schnappt nach Luft. Sie zittert. Die Monster drängeln sich in sie hinein, sie erdrücken sie fast. Gertie hat kaum noch Platz für sich selbst in ihrem eigenen Kopf.

Wie viele sind es? Mehr als sie zählen kann.

Der Stiefvater kommt, sagt eines der Monster mit heller Stimme mitten in ihrem Kopf und sofort ist Gertie hellwach.

Wir wollen dich vor ihm warnen, sagt ein anderes in ihrem Kopf. Hab keine Angst, wir tun dir nichts.

Die Monster sind jetzt alle in Gertie hineingegangen. Warte, sagt eines, gleich ist dir warm. Und tatsächlich, Gertie fühlt auf einmal die Kälte nicht mehr. Sie ist nicht mehr müde, nicht mehr hungrig und sie kann unheimlich gut hören. Ihr ganzer Körper ist gespannt wie eine Bogensehne.

Sie bemerkt, dass die Kellertüre offensteht. Ein heller Lichtstreifen fällt aus der Küche in die Tiefe herunter.

Komm herauf, Gertie, ruft der Stiefvater. In seiner Hand hält er eine Flasche mit gelbem Wasser. Er setzt sie an den Mund und trinkt.

Rühr dich nicht, flüstert eines der Monster. Gertie rührt sich nicht.

Schwerfällig tappt der Stiefvater zwei Stufen herunter. Er schwankt und stützt sich mit einer Hand an der Kellerwand ab.

Bist tot, Balg? Er lacht ein hohles Lachen.

Sag nichts, Gertie, sagen die Monster. Verrat ihm nicht, wo du steckst. Gertie gibt dem Stiefvater keine Antwort.

Lass ihn nach dir suchen. Der Stiefvater kann Gertie nicht sehen. Das Kellerlicht ist schon lange kaputt. Er tappt unbeholfen die Treppe herunter, übersieht die letzte Stufe und stolpert fluchend in die Dunkelheit.

Lass ihn kommen, sagen die Monster im Chor. Wir helfen dir, dich zu verteidigen, wenn er dir was tut. Gertie lauscht.

Wir sind stark, sagen die Monster. Gemeinsam schaffen wir es. Vertrau uns. Dieser Satz beruhigt Gertie. Vielleicht hat sie sich in den Monstern ja getäuscht. Die Monster sind vielleicht gar nicht böse.

Wo steckst du, Aas? sabbert der Stiefvater, und nimmt einen Schluck aus der Flasche. Ich schlag dich zu Brei, wenn ich dich erwische. Er fuchtelt mit den Armen und schlägt mit der Flasche an den umgedrehten Küchenschrank.

Steh auf, schnell! Versteck dich hinter der Kartoffelkiste, raten die Monster und Gertie rutscht auf ihren Knien über den Boden und versteckt sich hinter der leeren Kiste. Die Monster sind ganz aufgeregt und ihr wird heiß davon. Die Hitze macht Gertie stark und hellwach.

Komm her zu mir Gertie, ruft der Stiefvater und seine Stimme klingt sehr zornig, oder soll ich dich an den Haaren herschleifen? Gerties Herz schlägt bis zum Hals. Sie überlegt was sie tun soll.

Drüben auf dem Dreckhaufen beim Loch liegt der Spaten, sagen die Monster, hol den Spaten, schnell. Gertie sieht den Stiefvater kommen. Er trägt keine Brille und sieht schlecht. Und das Licht von der Küche fällt nicht bis dahin wo er steht. Gertie kann ihn gut sehen. Aber sie fürchtet sich, in die Nähe des Loches zu gehen, auch wenn die Monster jetzt nicht mehr drin sind, sondern in ihrem Kopf. Geh schon, drängeln die Monster, mach was wir dir sagen. Du willst doch nicht, dass er dir was tut. Nein, das will Gertie nicht.

Jetzt fängt der Stiefvater mit heiserer Stimme an zu singen:

Veilchen sind blau, Rosen sind rot...

Er nimmt wieder einen Schluck aus der Flasche, rülpst und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Er stinkt. Gertie kann es riechen. Sein blaues Hemd hängt offen über der dreckigen Hose. Sie kann seinen Bauch sehen.

...sitzt du im Keller, bist du bald tot.

Lass ihn singen, sagen die Monster. Der Stiefvater lügt. Hol den Spaten. Schnell. Gertie kriecht hinter der Kartoffelkiste vor, schaut zu dem Erdhaufen. Er ist so weit weg, unter der Treppe, da wo der Lichtstreifen herunterfällt. Er wird sie sehen, wenn sie geht, um den Spaten zu holen.

Verdammtes Gör, lallt der Stiefvater. Ich mach dich kalt, wenn ich dich zu fassen kriege. Und er will einen Schluck aus der Flasche nehmen, aber die Flasche ist leer. Er wirft sie an die Kellerwand und die Flasche zerbricht.

Es lauern die Monster im schwarzen Loch

und willst du auch fliehen, sie kriegen dich doch

lallt er. Er steht jetzt genau da, wo sie vorhin die ganze Zeit gesessen hat, nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Er lauscht auf irgendein Geräusch, das sie verrät, ihren Atem oder ihren Herzschlag. Gertie rührt sich nicht.

Wir lauern nicht mehr im Loch, flüstern die Monster. Wir sind jetzt in Gertie. Und wir sind stark. Nimm dich vor uns in acht, Stiefvater.

Denk an den Spaten, Gertie.

Ja, sagt Gertie. Sie denkt an den Spaten. Der Spaten ist groß und schwer und sie wird Mühe haben, ihn von dem Erdhaufen herunterzuziehen, wenn sie es jemals bis dahin schafft. Denn der Stiefvater wird sie entdecken, er wird sie zu fassen kriegen und an den Haaren oder wenn sie Glück hat, an einem Arm durch den ganzen Keller schleifen und dann die Treppe hoch und sie wird sich die Beine blutig schürfen an den Steinen und oben in der Küche wird er sie auf seinen Schoß setzen und sie wird zu schwach sein, um sich zu wehren. Manchmal sagt er auch, hau ab ins Bett Gertie und lass dich nicht mehr blicken bis morgen früh. Aber nicht jetzt. Jetzt hat er zuviel von dem scharfen Wasser getrunken. Das scharfe Wasser macht ihn böse.

Gertie stemmt sich mit beiden Händen ab, hebt den Po etwas und rutscht rückwärts in Richtung des Loches. Sie ist sehr aufgeregt. Ihr Mund schmeckt nach Blut. Sie rutscht noch ein Stück weiter und ihre rechte Hand faßt in etwas Weiches, Pelziges. Sie erschrickt so sehr darüber, dass sie aufschreit. Und nun weiß der Stiefvater wo sie ist, er kommt torkelnd auf sie zu. Sie steht schnell auf und rennt hin zu dem Erdhaufen und versucht den Spaten herunterzuziehen. Er ist so weit oben, dass sie, um an ihn heranzukommen, in die feuchte, kalte Erde hineintreten muss mit ihren nackten Füßen.

Kümmere dich nicht darum, sagen die Monster, beug dich vor und greif zu. Gertie beugt sich vor und versucht den Spaten oben am Stiel zu greifen. Es geht nicht, er ist zu weit weg. Sie tappt noch einen Schritt weiter in den Haufen hinein und beugt sich so weit nach vorn wie sie nur kann. Die Erde macht ihre Hose und das Hemd dreckig, aber sie bekommt den Stiel zu fassen und zieht und fasst noch einmal nach und dann ist der Stiefvater auch schon heran und packt sie an ihrem Hemd.

Hab ich dich, Balg, lallt er und will sie an sich reißen.

Pass auf, schreien die Monster und Gertie reißt sich los und schwingt den Spaten herum. Sie trifft den Stiefvater mit der scharfen Kante am rechten Fußknöchel. Da läßt er sie los. Klank macht der Spaten auf dem Kellerboden.

Gut so, Gertie, sagt eines der Monster, lass dir nichts gefallen!

Schlag zu, schlag zu., Die Monster in ihrem Kopf schreien wild durcheinander.

Du kannst es. Du kannst es. Mit uns bist Du stark.

Ja das ist sie, stark, denn auf einmal ist es ganz leicht, den schweren Spaten hochzuheben. Sie spürt, dass der Stiefvater wieder nach ihr greifen will, dreht sich herum, damit sie Schwung kriegt und der Spaten saust auf seinen nackten Bauch. Der Stiefvater fällt rückwärts auf den Erdhaufen Seine Hände krallen sich in die schwarze Erde. Er stemmt sich hoch und will aufstehen, aber Gertie schlägt noch einmal zu und der Stiefvater fällt wieder zurück in den Dreck. Lass das, Gertie, schreit der Stiefvater, oder ich bring dich um! Er rollt sich weg von dem Erdhaufen und er schafft es sogar, ganz aufzustehen. Gertie sieht roten Zorn in seinen Augen.

Schlag zu oder er bringt dich um, das ist dir doch klar Gertie, kreischen die Monster. Der Stiefvater ist jetzt gefährlich nahe. Rechts neben ihm ist das Loch und hinter ihm ist die Treppe. Er wirft beide Arme nach vorn, um Gertie zu packen, da schlägt der Spaten erneut zu und der Stiefvater prallt rückwärts mit dem Kopf an die Kante der Treppe. Der Schlag läßt ihn taumeln und der Spaten schlägt wieder zu und wieder und bei jedem Schlag prallt der Stiefvater mit dem Hinterkopf an die Treppe. Als der Spaten den fünften oder sechsten Schlag tun will, da rollt der Stiefvater auf einmal mit den Augen, dass Gertie trotz der Dunkelheit das Weiße darin sehen kann. Er kippt seitlich weg und fällt kopfüber in das Loch hinein. Gertie steht steif da und sieht mit weit aufgerissenen Augen zu, wie der Stiefvater in das Loch fällt. Das Loch macht ein fürchterliches Geräusch, es schmatzt und blubbert und dann klettern große pelzige Dinger mit langen Schwänzen eilig aus dem Loch hin zu dem Erdhaufen. Vor Schreck lässt Gertie den Spaten fallen. Eines der Dinger huscht über ihre nackten Füße und sie schreit ganz laut und spitz. Sie kann nicht mehr aufhören zu schreien. Und auch die Monster schreien mit ihr mit. Alle, bis auf eines. Dieses eine sagt:

Wirf den Spaten in das Loch, Gertie

und Gertie schiebt den Spaten mit den Füßen in das Loch hinein. Das Loch ist ganz tief und schwarz und es stinkt. Die Pelzdinger hocken zu dritt auf dem Erdhaufen und beobachten sie. Scheußlich! Gertie dreht sich um und rennt schnell weg. Ihr wird plötzlich speiübel und sie läßt sich auf den Lehmboden fallen. Das Karussell in ihrem Kopf fängt wieder an sich zu drehen! Die Monster merken es und kreischen, ihre schrillen Stimmen tun Gertie sehr weh.

Schnell – schneller, immer schneller dreht sich das Karussell. Und über all dem Drehen, dem Geschreie der Monster, den Schmerzen und der Übelkeit klingt das Lied, das schlimme Lied:

Veilchen sind blau, Rosen sind rot

Sitzt du im Keller, bist du bald tot.

Es lauern die Monster im schwarzen Loch

Und willst du auch fliehen, sie kriegen dich doch.

Doch jetzt wird das Lied mit der Stimme eines kleinen Mädchens gesungen, nicht mehr mit der des Stiefvaters. Und das Lied hängt auch nicht mehr wie ein Echo im ganzen Keller. Das ist gut. Das Karussell dreht sich so sehr, dass die Monster sich nicht mehr festhalten können in Gerties Kopf. Sie heulen und plärren und fahren schließlich aus ihrem Mund, aus der Nase und aus den Ohren heraus und verschwinden wieder in dem schwarzen Loch. Als das letzte Monster aus Gertie herausgefahren ist, bleibt das Karussell mit einem einzigen Paukenschlag stehen und Gertie ist auf einmal wieder kalt.

Eiskalt.

Gertie öffnet die Augen. Ein Schimmer Licht fällt durch die Bretterritzen vor dem Kellerfenster. Ist Tag? Die linke Hand tut Gertie weh. Sie schaut nach, eine Glasscherbe steckt im Handballen, es blutet. Wo kommt die Scherbe her? Gertie zieht das kleine Glasstück heraus, wirft es weit weg und wischt ihre Hände an ihrem Hemdchen ab. Warum ist das Hemd so schmutzig, ganz braun? Gertie überlegt, wieso sie sich so schmutzig gemacht hat. Es fällt ihr nicht ein.

Ein Lichtstreifen fällt aus der Küche herunter. Das weckt Gerties Lebensgeister.

Der Stiefvater hat ja die Kellertüre aufgemacht, denkt sie, endlich! Sie steht auf mit steifen Gliedern und wäre fast wieder gefallen. Mit unsicheren Schritten geht Gertie zur Kellertreppe. In dem schwachen Lichtschein sieht sie die blauen Sandalen daliegen und hebt sie auf. Sie setzt sich auf die untere Treppenstufe und zieht sie an. Gertie beeilt sich damit, weil das Loch so nahe ist. Dann klettert sie Stufe für Stufe die Treppe hoch, vorsichtig. Sie stützt sich mit den Händen an der Wand ab. Als sie oben ist, drückt sie die Kellertür zu und schiebt den Riegel vor.

Auf dem Küchentisch entdeckt sie ein Glas Milch. Durst.

Sie nimmt es und trinkt es hastig aus. Aus den Augenwinkeln sieht sie ihr Springseil über einer Stuhllehne hängen und nimmt es in die linke Hand. Das leere Glas stellt sie zurück auf den Tisch. Sie hüpft ein wenig durch die Küche und zählt dabei: Eins - zwei - drei.

Nach einer Weile öffnet sie die Hintertüre und springt hinaus in den Hof.

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Petra Koch

Erschienen in Leselupe.de; 36 Gründe, sich einen Internet-Anschluss zu leisten, Website-Verlag, ISBN 3-935982-19-4

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