Mitternachtsblues

Sie steht am Schlafzimmerfenster im dritten Stock und schaut hinaus auf die dunkle, menschenleere Gasse. Sie lauert auf eine Bewegung im Lichtkreis der Straßenlaterne schräg gegenüber: eine Bewegung, die ihr signalisiert, dass ihr Mann endlich nach Hause kommt. Er hat heute früh versprochen, noch vor der Tagesschau dazusein und nun ist es bereits kurz vor Mitternacht. Wieder einmal ist er nicht an der Bahnhofskneipe vorbeigekommen, über dem Bier und den Schnäpsen hat er das Heimkommen vergessen. Sie hat nichts dagegen, dass er nach der Arbeit sein Bier trinkt, ein Bier nach einem harten Arbeitstag steht einem Mann schon zu. Aber sie hasst es, wenn aus dem einen Bier sieben oder acht werden und vor allem, wenn er Schnaps dazu trinkt. Wenn er das Bier mit Schnaps hinunterspült, wird er aggressiv. Vor seiner Aggressivität fürchtet sich die Frau.

Die Augen der Frau brennen von dem langen Hinunterstarren. Gegen sieben Uhr hat sie die fünfjährigen Zwillinge zu Bett gebracht: Sie hat einen Fernsehfilm angeschaut, sich gegen zehn Uhr todmüde hingelegt und ist um halb elf Uhr dennoch wieder aufgestanden: Ihre Nerven liegen blank. Wieder einmal ist sie innerlich viel zu aufgewühlt, um in den Schlaf zu finden. Außerdem ist es gefährlich, einzuschlafen. Denn in der Küche stehen die Kartoffeln im Wasserbad auf dem Herd, köchelt das Gulasch vor sich hin. Wenn der Mann heimkommt, erwartet er eine warme Mahlzeit. Weil sie nie weiß, um welche Zeit er eintrifft, ist sie gezwungen, das Essen auf dem Herd warm halten, bis er da ist. Der Abschlag für die Stromrechnung ist seit der letzen Jahresabrechnung um die Hälfte gestiegen. Vor drei Wochen hat die Frau das Essen einmal gegen neun Uhr abends abgestellt. Ausgerechnet an dem Abend kam er um halb zehn heim und schrie sie an: kriegt ein Mann, der den ganzen Tag schwer gearbeitet hat, nichts zu essen? Er hat den Topf mit der lauwarmen Suppe vom Herd genommen und ihn ihr vor die Füße geworfen. Wenn ich heimkomme, will ich, das das Essen heiß ist, verstanden, hat er gebrüllt und ihr zwei schallende Ohrfeigen gegeben. Seither ist das Essen immer heiß, wenn er heimkommt: die Kartoffeln sind braun und das Gulasch salzscharf eingekocht, aber wenigstens heiß. Meist ist der Mann so betrunken, dass er ohnehin nichts mehr essen kann.

Bevor er sich an den Tisch setzt, um mit gesenktem Kopf in den braunen Kartoffeln und dem zerkochten Fleisch herumzustochern, wankt er jedesmal an das Eckschränkchen, auf dem der Plattenspieler steht, legt die alte Louis-Armstrong Platte mit dem St. Louis-Blues auf und dreht die Lautstärke hoch. Sie haßt die Platte abgrundtief. Seit er sie im Zorn nach ihr geworfen hat, hat sie einen dicken Kratzer, in dem die Nadel des Tonarms hängenbleibt. Er ist wütend darüber und schlägt sie deswegen. Manchmal läßt er sie auch in Ruhe. Er ist unberechenbar.

Ein paar Mal ist der Mann gar nicht heimgekommen. Er hat wohl bis zur Sperrstunde in der Kneipe gehockt und soviel getrunken, dass ihn seine Beine nicht mehr trugen, hat seinen Rausch im Auto ausgeschlafen und ist gegen morgen ungewaschen und unrasiert zur Arbeit gefahren.

In jenen Nächten, wenn er nicht heimkam, hat sie jeweils bis gegen drei Uhr früh am Fenster gestanden, vor Kälte und Aufregung zitternd, hat sich mit dem Gedanken gequält, ihm könne etwas zugestoßen sein. Erst gegen morgen ist sie da völlig übermüdet ins Bett gefallen, war am Tag völlig durcheinander, hat an einen schlimmen Unfall gedacht. Bei jeder Polizeisirene ist sie zusammengezuckt und hat sich kaum aus dem Haus getraut. Jedesmal kam der Mann nach solchen Ausrutschern anderntags pünktlich gegen zwanzig Uhr zurück, ohne ein Wort der Entschuldigung oder Erklärung, ohne schlechtes Gewissen.

Während sie auf die nächtlich stille Straße hinunter schaut, spielt sie mit dem Gedanken ihn zu verlassen. Der Gedanke verursacht ihr Übelkeit. Wenn ich ihn verlasse, denkt sie, wird er ganz unter die Räder kommen. Sie empfindet fast Mitleid mit ihm. Und wohin soll ich mit den Zwillingen gehen, denkt sie, etwa ins Frauenhaus? Soll ich von Sozialhilfe leben? Sie hat ihre Arbeit in einem Labor nach der Heirat aufgegeben, sie müsste beruflich ganz von vorn anfangen. Wie soll sie das mit der Kindererziehung vereinbaren? Sie kann sich nicht vorstellen, von Sozialhilfe abhängig zu sein. Sie stammt aus der gehobenen Mittelschicht. Nie ist jemand aus ihrem Familienclan dem Staat zur Last gefallen. Die Frauen der Familie, ihre Mutter, die drei Schwestern, auch die Tanten, die Cousinen, haben ihr Schicksal mit Bravour gemeistert. Trennung, Scheidung sind in ihrer Familie Themen, die man nicht in Erwägung zieht, geschweige denn, dass man darüber spricht. Die Familie würde mein Weggehen als Schande ansehen, denkt die Frau, sie würden empört über mich herfallen wie Geier über Aas und mir jede Unterstützung verweigern. Das ist schlimmer als die jetzige Situation. Der Mann hat nur eine schlechte Phase, die irgendwann vorbei ist, redet sie sich ein. Sie will daran glauben, dass dieser Zustand vorübergeht. Es ist ihre Art des Überlebens.

Da - eine Bewegung, ein schmaler Schatten im Lichtkreis der Laterne. Dort kommt er, der Mann, mit breitbeinigem, schwankendem Gang, die Aktentasche in der rechten Hand. Er überquert die Gasse und die Frau fühlt, wie Angst ihr das Herz zusammenpresst. Was wird gleich auf mich zukommen, denkt sie. Soll ich ihn heute ansprechen oder lieber schweigen? Sie weiß, beides kann falsch sein und furchtbare Konsequenzen nach sich ziehen: ein blaues Auge zum Beispiel oder eine gebrochene Hand.

Sie dreht sich vom Fenster weg. Auf ihrer Stirn sammelt sich kalter Schweiß. Ich muss eine Entscheidung treffen, denkt die Frau, bald. Sie läuft nervös in die Küche, füllt das angesetzte Gulasch hektisch in einen neuen Topf, stellt den alten in die Spülmaschine, schüttelt die Kartoffeln auf, schaut einen Moment ins Kinderzimmer hinein. Gottseidank, die Kleinen schlafen tief und fest.

Jetzt poltert er die Treppe herauf mit Schluckauf, der durchs ganze Haus schallt. Mein Gott denkt die Frau, hoffentlich hören es die Nachbarn nicht. Sie schämt sich seinetwegen. Er schabt an der Tür herum, versucht den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Eilig läuft sie den Flur entlang, öffnet ihm und lässt ihn herein. Guten Abend, sagt sie leise zu ihm, wie war dein Tag? Sein Atem riecht nach Schnaps und Bier, seine Augen stieren blutunterlaufen. Er wirft ohne ein Wort die Tasche in die Ecke neben der Kommode und trottet schweigsam in die Küche, die Frau hinterher. Ohne zu zögern wankt er zu dem alten Plattenspieler und läßt den Tonarm auf die zerkratzte Platte fallen. Der Hals der Frau ist auf einmal wie zugeschnürt. Denn jetzt ist der unberechenbarste Augenblick des Tages ganz nahe:

Der Mann spielt für sie seinen Mitternachtsblues.

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Petra Koch

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