Das Puppenhaus

28. September

Als Lisa Bergmann durch den verwilderten Vorgarten schritt, der sich auf eigenartige Weise von den gepflegten grünen Rasenflächen und den Blumenrabatten auf den Nachbargrundstücken unterschied, fühlte sie die eigenartige Enge, die ihr den Hals zuschnüren und die Luft zum Atmen nehmen wollte, das erstemal. Und das kam sicher nicht nur daher, daß hier unzählige Zinnien, Astern, Bartnelken und Maßliebchen zwischen hohen Stockrosen- und Fingerhutstauden mit dem Unkraut und versprengten Küchenkräutern um ihren Lebensraum kämpften. Oder weil die hohen weißen Engelstrompeten, die in den schmalen Plattenweg hineinwuchsen, der zum Haus führte, sie versehentlich gestreift hatten. Sie spürte mehr als das: eine zwar unsichtbare, aber dennoch sehr reale Bedrohung umgab das ganze Anwesen.

Das Haus selbst war ein eingeschossiges Fertighaus mit weißen Sprossenfenstern, einem großen Balkon an der Giebelwand, mit schmiedeeisernem blau gestrichenem Geländer und einem leuchtend roten Ziegeldach. Es war das einzige Haus in der Siedlung, das älter als zehn Jahre war. Sarah und Rainer Steinberg hatten es vor vier Jahren mit allem Mobiliar zu einem außerordentlich günstigen Kaufpreis erworben, nachdem die Eigentümerin, eine kinderlose ältere Witwe eines Tages im Schlaf verstorben war.

Lisa Bergmann und Sarah Steinberg waren Kolleginnen, die eine lockere Freundschaft verband. Weil die sensible Lisa oftmals Ereignisse, die ein Stück weit in der Zukunft lagen, erfühlen konnte (und nicht nur das), erteilte sie ab und zu Rat bei privaten Problemen oder anstehenden Entscheidungen. Sarah Steinberg hatte Lisa in ihr Haus eingeladen, weil sie an Scheidung dachte. Komm nach Hause zu mir Lisa, hatte sie gesagt, und mach dir ein Bild. Ich will wissen, was du davon hältst.

Sarah Steinberg trat aus der Haustüre und kam Lisa entgegen. Schön, daß du da bist, sagte sie. Komm, gehen wir in die Küche, der Kaffee läuft gerade durch die Maschine. Sie betraten das Haus und einen Moment lang glaubte Lisa, durch eine zähe Masse zu waten, die ihnen erheblichen Widerstand entgegensetzte.

Die Küche war ein großer hell gekalkter Raum mit eichefarbenen Schränken, die bis an die Decke reichten. Vor dem Fenster gab es eine grün gepolsterte Eckbank, auf der zwei wunderschöne Künstlerpuppen saßen, einen Tisch, auf dem ein frischgebackener Apfelkuchen und zwei Gedecke standen und zwei Stühle. Wo ist Rainer, fragte Lisa, wollte er heute nicht da sein?

Er ist mal wieder drüben bei der Nachbarin, antwortete Sarah, er kommt fast nur noch zum Schlafen heim. Lisa sah sich in der Küche um. Du hast nie erzählt, daß du Puppen sammelst, sagte Lisa.

Tu ich auch nicht. Sarah warf den Papierfilter in den Mülleimer und trug die Kaffeekanne an den Tisch. Rainer hat die Puppen kurz nach unserem Einzug in das Haus in einem großen Schrankkoffer auf dem Dachboden gefunden, als er sich das Arbeitszimmer einrichten wollte. Sind sie nicht hübsch? Sehen sie nicht aus, als wären sie echt?

In der Tat: sie sahen sehr echt aus. Ihre Vorbilder mußten lebende Modelle gewesen sein. Der dunkelhaarige, braunäugige Junge war etwa so groß wie ein Siebenjähriger. Er trug eine graue Hose, einen dunkelblauen Blazer, ein hellblaues Hemd mit Fliege und eine Baseballkappe der Chicago Bulls. Sein rechter Arm lag in einer beschützenden Geste um die Schulter eines blonden blauäugigen etwa fünfjährigen Mädchens, das ein schwarzes Samtband im Haar und ein grünes Sommerkleid mit weißer Schürze trug. In einer alten Holzwiege lag ein rothaariges, etwa drei Monate altes Puppenbaby, das an einem Daumen lutschte. Das sind meine Kinder, sagte Sarah Steinberg. Lisa Bergmann wußte, daß Sarah unter ihrer Kinderlosigkeit litt und antwortete: sie sind außerordentlich hübsch. Kaum zu unterscheiden von echten Kindern.

Die beiden Frauen setzten sich, tranken Kaffee, aßen den halben Apfelkuchen auf und Sarah Steinberg erzählte die Geschichte des Hauskaufes.

Sarah und Rainer Steinberg waren an einem Aprilsonntag vor vier Jahren mit ihrem neuen Wagen ins Blaue hineingefahren. Auf dem Nachhauseweg kamen sie zufällig an dem Haus vorbei, entdeckten das Schild Zu verkaufen, schrieben sich die Telefonnummer des Maklers auf und vereinbarten einen Besichtigungstermin. Ich glaube, erzählte Sarah, der Makler wollte das Haus so schnell wie möglich loswerden, er war während der Besichtigung sehr nervös und machte uns einen Preis, der mir sehr niedrig schien. Ich hatte kurz zuvor eine Erbschaft gemacht und war in der Lage, zwei Drittel des Kaufpreises sofort zu bezahlen, daher schlugen wir ein. Für den Rest haben wir eine Hypothek aufgenommen.

Wieviel?

Sechzigtausend. Doch das Haus gehört mir, ich habe darauf bestanden, als alleinige Eigentümerin im Grundbuch eingetragen zu werden.

Kannst du das Haus behalten, wenn du dich scheiden läßt, fragte Lisa. Nein, ich werde es verkaufen müssen und mir eine Wohnung in der Nähe des Büros mieten.

Einen Augenblick lang hatte Lisa Bergmann das Gefühl, der Knabe habe sich bei Sarahs Worten bewegt. Aber das war natürlich unmöglich. Dennoch herrschte auf einmal eine seltsame Spannung am Tisch, die nur sie allein wahrnahm. Etwas stimmt nicht mit diesem Haus, dachte Lisa, es wird wirklich das beste sein, wenn Sarah es so schnell als möglich wieder los wird. Ein greller Schmerz fuhr in ihr rechtes Schienbein. Der Kaffee schwappte aus der Tasse, die sie gerade zum Mund führen wollte und verschmutzte die Tischdecke. Sie schrie auf und sah aus den Augenwinkeln, daß der Knabe zu ihr herüberstarrte. Seine Augen waren schmale Schlitze. Sein Arm lag immer noch um die Schulter des Mädchens. Doch das Mädchen hatte seine Sitzposition minimal geändert. Beide Puppen schienen sehr zornig zu sein. Lisa Bergmann konnte es in ihren Gesichtern lesen wie in einem Buch. Sarah war mittlerweile aufgesprungen, hatte ein Papiertuch geholt und die Tischdecke damit abgetupft. Alles halb so schlimm, sagte sie zu Lisa, ich hab morgen sowieso große Wäsche.

Erzähl mir von Rainer, bat Lisa. Warum willst du dich scheiden lassen? Sarah seufzte. Er hat sich so verändert, seit wir in dieses Haus gezogen sind. Schau dich doch um. Als wir noch die Wohnung im Hochhaus hatten, da schwärmte er von einem Garten. Hast du den Garten draußen gesehen? Total verwildert. Er hat ihn angelegt, aber er kümmert sich nicht mehr darum. Er tut überhaupt nichts mehr. Steht nur noch am Gartenzaun und schaut der Nachbarin zu, wie sie oben ohne ihren Rasen mäht. Seit drei Wochen geht er Tag für Tag hinüber zu ihr, angeblich um ihr den Handwerker zu ersparen. Ich will nicht wissen, was sie wirklich tun. Wenn er zurückkommt, ist er aggressiv und gemein. Er trinkt. Seit drei Wochen ist er auch arbeitslos.

Schlägt er dich?

Hin und wieder, aber immer so, daß es nicht auffällt. Der Junge rutschte unruhig hin und her. Es waren minimale Bewegungen. Niemand, der nicht ihre Gabe besaß, konnte es bemerken, aber Lisa sah es genau und schlimmer noch: sie fühlte seinen Zorn auch körperlich.

Was wird Rainer machen, nach der Scheidung? Du wirst ihm doch keinen Unterhalt zahlen müssen? Nein, antwortete Sarah, er bekommt demnächst eine Lebensversicherung ausbezahlt, Zweihunderttausend, glaub ich. Damit wird er hinkommen. Ich will keinen Pfennig von ihm. Nur den Erlös aus dem Verkauf des Hauses. Das Baby in der Wiege weinte. Lisa hörte es leise schluchzen und sie empfand Angst.

Schade, daß es nicht besser klappt mit euch beiden, sagte Lisa bedauernd, ihr könntet mit der Lebensversicherung die Hypothek abzahlen und hättet danach ein sorgenfreies Leben.

Ja, so hatten wir es einmal besprochen. Aber das ist schon lange her. Lisa hörte Sarah sprechen, aber es klang auf einmal verzerrt und fern. Der Junge und das Mädchen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Lisa beobachtete die beiden. Das Mädchen nickte. Es schien aufgeregt zu sein. Das Baby hörte auf zu weinen.

Was ist los mit dir Lisa, du siehst so seltsam aus? Geht es dir gut? Lisa hörte Sarahs Stimme aus der Ferne näher kommen. Sie blinzelte. Ja, sagte sie, es geht mir gut, warum fragst du?

Nur so...

Nach einer Weile begann Sarah das Kaffeegeschirr in die Spülmaschine zu räumen. Wenn ich fertig bin, zeig ich dir das Haus, ja? Lisa nickte. Ja, sagte sie, zeig mir das Haus. Dieses seltsame, unheimliche Haus, dachte sie.

Sie besichtigten den Keller, den Heizungsraum, den Hobbyraum mit der großen Tischtennisplatte, das Schlafzimmer im Erdgeschoß. Dann stiegen sie die Treppe hinauf ins Dachgeschoß, das Rainer als Arbeitszimmer benutzte. Er schläft seit einigen Tagen auch hier oben, sagte Sarah und stieß die Tür auf. Eine unsichtbare Atmosphäre von Angst, Hass und Zorn schlug augenblicklich über Lisa Bergmann zusammen und sie mußte sich fast übergeben. Hier oben mußte etwas Schlimmes geschehen sein. Lisa weigerte sich instinktiv den Raum zu betreten, aber Sarah zog sie einfach mit sich. In der Ecke, wo Rainers Liege stand, war es am schlimmsten: die Luft zäh wie Schleim, ein Geruch nach Moder und... Tod. Niemand, der nicht die Gabe besaß wie Lisa, konnte es sehen, fühlen, riechen. Doch Lisa sah, fühlte, roch und litt entsetzlich. Sie hörte Sarah plappern, aber die Worte rauschten zusammenhanglos an ihren Ohren vorbei.

Laß uns runter gehen, Sarah, sagte Lisa, mir ist nicht gut. Sie stiegen die Treppe hinunter und sprachen über den neuen Film, der gerade im Kino angelaufen war. Sie saßen im Wohnzimmer zusammen und sprachen über Bücher, über das Büro, über Kollegen.

Was meinst du Lisa, soll ich mich scheiden lassen, fragte Sarah irgendwann und kam damit auf das Thema zurück. Oder soll ich Rainer noch eine Chance geben?

Ich muß darüber nachdenken, antwortete Lisa. Es ist eine schwerwiegende Entscheidung, und du solltest sie nicht leichtfertig treffen.

Später, beim Abschied, schaute Lisa Bergmann noch einmal verstohlen in die Küche hinein. Die beiden Puppen saßen da, leblos, wie Puppen zu sein haben. Wie ist eigentlich die Vorbesitzerin des Hauses gestorben, Sarah? Die beiden Frauen standen unter der Küchentüre. Ich hab die Nachbarn nach unserem Einzug danach gefragt, sagte Sarah, du weißt ja, man kommt ins Gespräch und so. Sie ist im Schlaf gestorben. Merkwürdig war nur, daß sie unter einem riesigen Kopfkissen lag, als man sie fand, als ob jemand sie hätte ersticken wollen. Und daß sie sich gewehrt haben muß. Ihr Bett, das an der gleichen Stelle stand wie Rainers jetzt, soll völlig zerwühlt gewesen sein. Dabei lebte sie ganz allein in diesem Haus. Ich will gar nicht daran denken, obwohl ich nicht abergläubisch bin.

Lisa hörte Sarah zu und sah hinüber zu den beiden Puppen. Der Junge hob die linke Hand, streckte den Mittelfinger in die Höhe und grinste.

05. Oktober

Das Telefon klingelte um drei Uhr früh und Lisa, die erst gegen ein Uhr ins Bett gegangen war, hob müde den Hörer ab. Jemand schluchzte.

Sarah?

Was ist passiert Sarah?

06. Oktober

Sie kamen zu zweit ins Büro, zeigten ihre Dienstausweise und stellten Lisa Bergmann Fragen.

Rainer Steinberg ist tot, sagten sie, gestorben im Schlaf. Merkwürdig sei nur, daß er unter seinem Kopfkissen gelegen habe, als habe ihn jemand ersticken wollen. Er müsse sich sehr gewehrt haben, seine Laken waren völlig zerwühlt. Dabei wäre er ganz allein im Haus gewesen.

Die Nachbarin hat ein Alibi. Sie ist seit Dienstag auf Ibiza. Auch Sarah hat ein einwandfreies Alibi. Sie ist kurz nach Lisas Besuch zu ihrer Mutter nach Hamburg gefahren. Lisa hat Sarah heute früh dort angerufen. Sarah Steinberg sagt, sie wird mit Rainers Lebensversicherung die Hypothek bezahlen. Und sie wird das Haus behalten. Sie ist nicht abergläubisch.

Lisa Bergmann ist darüber nicht sehr glücklich, denn sie kennt den Täter. Und sie schweigt.

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Petra Koch

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