Die Quintessenz des Hasses

Tamara sitzt am Küchentisch, den Kopf in die Hände gestützt.

Draußen vor dem Küchenfenster geht gerade die Sonne unter. Gleich wird Tamaras Mann Bruno heimkommen. Schon vor Stunden hätte Tamara das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine stellen, die Betten machen, die Wohnung aufräumen, Brunos Hemden bügeln und das Abendbrot richten müssen. Doch sie hat nichts von alledem getan.
Sie sitzt da, starr wie ein Stein.

Tamara grübelt.

Gleich wird Bruno zur Türe hereinkommen, wird ihr einen Kuss auf die Backe drücken und so tun als ob alles in Ordnung wäre, der Lügner. Für Tamara ist das der verhassteste Augenblick des Tages, denn Tamara lebt in einer von Eifersucht zerfressenen inneren Welt und in dieser Welt hat ihr Bruno eine Andere.

Mittlerweile ist Tamara überzeugt, dass es die Rothaarige ist, die drei Häuserblocks entfernt wohnt. Tamara sieht die Rothaarige manchmal im Supermarkt. Was für ein vulgäres, aufgetakeltes, hinternwackelndes Luder, denkt sie. Mit der Rothaarigen hat Bruno eine Affäre. Die Frauenzeitschriften sind voll mit Geschichten über Seitensprünge und Affären angeblich treusorgender Ehemänner. Warum sollte Bruno da anders sein. Kommt er nicht ständig zu spät nach Hause und ist müde? Macht er nicht neuerdings Überstunden und arbeitet auch samstags? Das ist doch verdächtig, oder nicht? Nie hat Bruno Zeit für mich, denkt Tamara. Für die Rothaarige nimmt er sich Zeit. Mit ihr lacht er. Mit ihr schläft er. Für mich, denkt Tamara, hat Bruno nichts übrig.

Tamara brütet vor sich hin.

Sie stellt sich vor, was ihr Mann mit der Rothaarigen macht. Immer stellt sie sich das vor. Ist der Gedanke gedacht, so kann sie ihn nicht mehr aufhalten, er verselbständigt sich, er potenziert sich und gleich darauf erscheint in ihrem Kopf eine schwarze Wand auf der in einer Endlosschleife ein Film mit dem Titel Bruno und die Rothaarige läuft, mit immer neuen Handlungssträngen. Es dauert sehr sehr lange, bis Tamara imstande ist, sich von den quälenden Bildern loszureißen. Der hasserfüllte Satz Ich werde sie umbringen, lässt den Film platzen wie eine Seifenblase und katapultiert Tamara meistens zurück in die Realität ihres mit schmutzigem Geschirr beladenen Küchentisches. Mittlerweile ist dieser Vorgang, die Wand, der Film, die wütend ausgespuckte Morddrohung, ein tägliches Ritual geworden und ein machtvolles dazu, das ihr wertvolle Zeit und Lebensqualität stiehlt. Ein Ritual, das in den letzten Monaten ein qualvolles Eigenleben entwickelt hat. Es will vollzogen werden, sobald der Mann frühmorgens die Tür hinter sich zugezogen hat.

Tamara seufzt.

Wie kann ich jemals sicher sein, dass Bruno zur Arbeit fährt und nicht zu Ihr, denkt Tamara. Manchmal, wenn sie die Ungewissheit nicht mehr ertrug, ist sie auch schon mit ihrem Fahrrad zum Haus der Rothaarigen gefahren, um nachzuschauen, ob Bruno's dunkelblauer VW-Golf auf dem Parkstreifen steht. Da Bruno aber einer von den Guten ist, zufrieden mit dem was er erreicht hat, zufrieden mit Tamara, auch wenn er sich in der letzten Zeit öfter Gedanken um die wortkarge Art und die schlampige Haushaltsführung seiner Gattin macht, hat Tamara Bruno's Auto noch nie vor dem Haus der Rothaarigen gesehen.

Bruno kennt die Rothaarige nicht.

Tamara aber hasst die Frau abgrundtief. Ich habe mir meine blonden Haare auch rot gefärbt, denkt Tamara, aber Bruno hat es nicht bemerkt, er übersieht mich einfach.

Tamara wendet den Kopf zum Fenster.

Sie entdeckt, dass die Sonne untergeht. Mein Gott, denkt sie, wo ist nur die Zeit geblieben. Gerade war noch Morgen und nun das. Immer entgleitet ihr die Zeit. Tamara überlegt, was sie tagsüber getan hat, aber es fällt ihr nicht ein, all ihre Erinnerungen sind verblasst vor der widerlichen, obszönen Bilderflut, die die schwarze Wand in ihrem Kopf ausgespuckt hat.

Tamara runzelt die Stirn.

Sie sieht sich in der Küche um. Ich sollte das Geschirr in die Maschine räumen und das Abendessen richten, denkt sie lahm, aber wozu? Tamara und Bruno essen schon lang nicht mehr gemeinsam. Sie kocht und isst für sich allein. Sie will sicher sein, dass er sie nicht vergiftet, um frei zu sein für die rote Schlampe. Erneut fühlt sie diesen leidenschaftlichen Hass auf die Frau, die ihr das Leben und den Mann gestohlen hat. Ihre Hände fahren ziellos auf dem Tisch herum. Dabei ertastet Tamaras Rechte das Brotmesser auf dem Tisch. Ihr Daumen fährt leicht über die scharfe Schneide.
Schön scharf. Gut so. Genau richtig für die Hure.
In ihrer Fantasie stößt sie das Messer in den Leib der Rothaarigen. Tamara gefällt was sie sieht: Blut quillt zwischen den Brüsten der Schlampe hervor, sie weidet sich an dem Schrecken der Rothaarigen, hört voll Genugtuung ihre spitzen Schmerzensschreie.
Alles wirkt so real.
Tamara sticht zu, immer und immer wieder, schauerlich, bis das Schreien der Rothaarigen in ihrem Kopf verstummt. Doch das Fantasiegeschehen entwickelt eine gefährliche Eigendynamik: Das Messer, noch gefärbt vom Blut der Rothaarigen fährt plötzlich in Brunos imaginären Leib. Brunos Hemd färbt sich rot. Tamara erschrickt und erwacht aus ihrer Trance. Sie starrt auf das saubere frisch geschliffene Brotmesser in ihrer Hand und lässt es mit einem kleinen Schrei auf den Küchentisch fallen.

Tamara atmet schwer.

Wenn die Rothaarige tot wäre, denkt sie, könnte alles wieder sein wie früher. Aber so lange sie nicht tot ist, wird Bruno nicht aufhören, es mit ihr zu treiben und deswegen ist Bruno Schuld an allem. Immer sind die Männer Schuld am Unglück der Frauen, denkt Tamara. Und wieder sieht sie die blutige Fantasie-Szene vor sich:
Hinein und heraus, hinein und heraus, fährt das Messer in Brunos Bauch, bis er stöhnend vor ihr auf den Knien liegt. Tamara kann nicht aufhören mit der Vorstellung des Mordens: Hinein und heraus.
So wunderbar leicht fühlt sich das an, so...
befreiend!

In diesem Moment hört Tamara ein Geräusch an der Korridortüre. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Das bringt Tamara ein Stück in die Realität zurück.
Bruno kommt heim.

Tamara erhebt sich.

Sie stellt den Stuhl ordentlich zurück an den Tisch und strafft die Schultern. Fast beiläufig greift sie wieder nach dem Brotmesser auf dem Tisch.
Bruno schließt die Korridortüre und geht den Flur entlang. Er gähnt. Diese Überstunden schaffen mich, denkt er, ich halte das nicht mehr lange durch. Aber ich brauche das Geld für die Kreuzfahrt zu unserer Silberhochzeit im nächsten Jahr. Er schmunzelt vor sich hin. Tolles Geheimnis. Bruno stellt seine Arbeitstasche zur Seite und zieht seine Jacke aus. Wo steckst du, Tamara, ruft er Richtung Küche. Ich bin wieder da.
Tamara geht ihm mit hölzernem Gesichtsausdruck entgegen, hinter ihrem Rücken hat sie die Faust um das Brotmesser gekrampft als wäre sie mit ihm verwachsen. In ihren dunklen Augen flackert ein eisgraues Feuer. Dann steht sie vor Bruno. Der gibt ihr einen Kuss auf die Backe.
Guten Abend, Liebes, sagt er freundlich.

Tamara erwidert nichts.

Ihre rechte Hand schnellt vor und jagt Bruno das Messer tief in die Brust. Nie wieder wirst du es mit dieser roten Hexe treiben, kreischt sie. Nie wieder! Nie wieder!

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Petra Koch

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