Die Regel Nr. 3

07 Uhr 55: Bernie Stein steht an Winslows einziger Haltestelle direkt gegenüber der Dorfkirche und qualmt eine Zigarette. Es ist der erste Donnerstag im Oktober, ein windstiller sonniger Morgen und er wartet auf den Linienbus, der einmal pro Woche das Dorf anfährt. Er will in der Kreisstadt Alkohol und Zigaretten kaufen.

Trotz der frühen Stunde ist ein Gottesdienst im Gange, Sprechgesänge dringen über den Kirchplatz gedämpft an Bernies Ohr. Bernie Stein hat noch nie in seinem Leben ein Kirchengebäude betreten. Er ist Atheist.

Bernie Stein stinkt. Eine unerträgliche Mischung aus altem Schweiß und Schnaps dünstet aus seinen Poren und darüber hängt wie eine Glocke der Geruch von frisch verschüttetem Nitroverdünner. Bernie Stein trägt ein blaukariertes Hemd und eine verdreckte Latzjeans. Er ist von den Schultern bis zu den Knien hinunter nass.

Auf Bernies Stirn und Wangen blühen eitrige Pusteln. Seine Gesichtszüge verschwinden unter dichten schwarzen Bartstoppeln und geben nur seine braunen ausdruckslosen, von unzähligen Alkoholexzessen geröteten Augen frei. Gut, dass Bernie Stein alleine an der Haltestelle steht. Kaum jemand würde es länger als eine Minute neben ihm aushalten können, ohne sich zu übergeben.

Bernie zieht an seiner Zigarette und schnippt die Asche achtlos weg. Seine ungepflegten breiten Hände zittern. Die Asche fällt nicht zu Boden, sondern in den linken Aufschlag seiner hochgekrempelten fleckigen Jeans. Bernie kramt ein schmutziges Papiertaschentuch aus der Hose, schnäuzt sich laut die Nase und wirft es hinter sich. Der Sprechgesang in der Kirche wird leiser und verebbt.

Eine Windböe fegt über den Kirchplatz und pustet das weggeworfene Tuch vor Bernie Steins linken Schuh. Bernie Stein kickt es fort.

07 Uhr 56: Winslow ist ein seltsamer Ort. Er liegt eingebettet in ein kleines Gebirgstal, eine Autostunde von der nächsten Kreisstadt entfernt. Es gibt eine kleine alte heruntergekommene rote Backsteinkirche mit einem ausgebrannten Turm, eine urige Kneipe ohne Alkoholausschank, ein Gemeindehaus, eine Mühle, eine Schreinerei, eine Schule. Um den Kirchplatz herum gruppieren sich Häuser mit gepflegten Vorgärten hinter weißen Zäunen. Ein paar hundert Meter vom Dorfkern entfernt liegen sechs zum Dorf gehörenden Bauernhöfe.

Einmal in der Woche, jeden Dienstag, quält sich ein Lastwagen mit Waren die schmale Pass-Straße hinauf und versorgt den einzigen Krämerladen mit einem ausreichenden Sortiment an vorbestellten Waren, so dass niemand gezwungen ist, in der Stadt etwas einzukaufen. Doch Hochprozentiges und Tabak gibt es im Dorfladen nicht, auch keine Tageszeitung oder Zeitschriften. In einem Umkreis von drei Meilen um das Dorf scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Winslower ernähren sich von dem was ihre Äcker hergeben. Sie sind Bauern und allesamt Vegetarier. Sie halten Ziegen, um Käse herzustellen und wegen der Milch für die Kinder. Sie halten auch Hühner, doch weder Kühe noch Schweine. Und sie vermeiden bewusst den Kontakt mit der Außenwelt, haben keine Autos, keine Radios, kein Fernsehen, keine Computer, keine Mobiltelefone. Der technische Fortschritt der letzten Jahrzehnte hat den Ort nie erreicht. Die wenigen Telefone, die einige ältere Einheimische ihr eigen nennen, sind altmodische Wandapparate aus den Zwanziger Jahren. Alle Telefonate gehen im Büro des Ortsvorstehers ein und werden von dort aus weiter vermittelt. Die Winslower haben auch ihre eigene religiöse Überzeugung. Hätte Bernie Stein in den letzten Monaten nur ein einziges Mal die Dorfkirche betreten, er wäre wohl ein wenig vorsichtiger geworden im Umgang mit den Einheimischen.

Die Winslower Bürger sind hagere, große Menschen mit kohlschwarzen Augen und einem durchdringenden Blick. Ab ihrem sechsten Geburtstag tragen sie nur noch schwarze Kleidung. Ihr düsteres Aussehen verdanken sie ihren Vorfahren, die vor Jahrhunderten vom Balkan her eingewandert sind und nicht zuletzt der Angewohnheit, untereinander zu heiraten.

Die derzeit einhundertsiebenundsechzig Dörfler, Säuglinge nicht eingerechnet, sind eine verschworene Gemeinschaft. Sie sind selten krank. Sie sind Kräuterkundige, ihr diesbezügliches Wissen ist schier unbegrenzt und wird von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Eine solche Gesellschaft duldet keine Außenseiter. Man wird geboren in Winslow, lebt und arbeitet in Winslow, heiratet in Winslow, stirbt in Winslow. Zwischen Geburt und Tod aber hält man sich an Regeln; Regeln, die man mit der Muttermilch verinnerlicht hat und deren Übertretung bisher kaum jemand ernsthaft in Erwägung gezogen hat.

Festgehalten sind diese Regeln in einem vierhundert Jahre alten ledergebundenen Buch, Manifest genannt, dessen Einband ein auf dem Kopf stehender goldgeprägter Fünfstern mit fremdartigen Symbolen ziert. Das Manifest ist in einer altertümlichen Schrift und Sprache verfasst, für Leseunkundige hübsch, aber eindeutig illustriert und liegt für jedermann einsehbar, geschützt in einem Glaskasten im Eingangsbereich des Gemeindehauses. Die vier Hauptregeln sind:

  1. Wichtige Entscheidungen, die das Dorfleben betreffen, werden immer gemeinsam beschlossen.
  2. Niemand tut vorsätzlich etwas, das der Gemeinschaft schadet.
  3. Übertretungen vorgenannter Regel Nr. 2 werden hart bestraft.
  4. Niemand verlässt Winslow auf Dauer.

Außer diesen vier wichtigsten gibt es unzählige Regeln, die das Gemeinschaftsleben bestimmen. Bernie Stein hat von alledem keine Ahnung. Er war noch nie im Gemeindehaus. Er kennt weder das Manifest noch die Regeln. Bernie Stein würde sich, weil er sich ungern etwas sagen lässt, auch nicht daran halten, hätte er Kenntnis davon. Er macht sich seit jeher seine eigenen Gesetze. Winslow ist daher für Bernie Stein ein sehr gefährlicher Ort.

07 Uhr 57: In der Kirche ist es still. Und kalt. Einhundertsechsundsechzig in schwarze Gewänder gekleidete Gestalten stehen dichtgedrängt im banklosen Kirchenraum und starren gebannt zum Altar, wo auf einer dunkelblauen, mit roten Flammensymbolen bestickten Decke sechs hohe schwarze Kerzen brennen. Kein christliches Symbol ist zu sehen. Vor dem Altar steht ein großer Weidenkorb, der gefüllt ist mit allerlei Unrat. Zerdrückte leere Bierdosen, eine leere Schnapsflasche, eine Tüte voll Zigarettenstummel, zerknülltes Papier, eine kurze abgebrochene weiße Zaunlatte und ein fleckiges rotkariertes Hemd befinden sich darin , ein Hemd, das Bernie Stein vermisst und seit Tagen schon sucht, und obenauf, für jeden sichtbar, zwei von einem begabten Dörfler gemalte Bilder. Eines davon zeigt unzweifelhaft das Gesicht Bernie Steins, das andere das einer jungen hübschen Frau mit dunklen langen Locken, es stellt Bernies verstorbene Mutter dar.

Der Priester in seiner schlichten schwarzen Kleidung fasst nach dem umgedrehten Fünfstern, der an einer schweren goldenen Kette um seinen Hals liegt, führt ihn an seine Lippen und küsst ihn. Die Gemeinde hebt die Hände in die Höhe.

Befreie uns nun Herr und Meister von allen unter uns,
die nicht deine Diener sind,

singt der Priester.

Ja Herr, befreie uns,

antwortet die Gemeinde.

Befreie uns Herr und Meister von allem,
was der Gemeinschaft schadet,

ruft er.

Befreie uns. Befreie uns.
Ja Herr, befreie uns,

antwortet die Gemeinde.

Fahre herauf Herr und Meister aus deinen Tiefen
und erlöse uns von dem Bösen unter uns,
reinige die Gemeinschaft durch den Gluthauch deines Atems.
Ja Herr und Meister, fahre herauf,
singt die Gemeinde.
Fahre herauf und reinige.
Fahre herauf und reinige.

Wie ein riesiger Schwarm schwarzer Vögel mit ausgebreiteten Flügeln stehen die einhundertsechsundsechzig Winslower dicht an dicht in der Kirche. Ihre Körper wiegen sich hin und her im Rhythmus ihres Singsangs, wie ein einziger großer Organismus.

Herr, befreie uns!

Begeisterung ist zu spüren, Ekstase, Erwartung und eine sich steigernde Spannung im Raum.

07 Uhr 58: Bernie Stein läuft an der Bushaltestelle unruhig auf und ab. Die Zigarette ist mittlerweile bis auf den Filter niedergebrannt. Sie verbrennt ihm die Finger und er wirft sie weg. In zwei Minuten kommt der Bus, denkt er. Er will so schnell wie möglich heute hier fort. Seit zwei Tagen hat er keinen Schluck getrunken. Das ist schwer auszuhalten.

Ein ungutes Gefühl keimt in Bernie auf, er wird nervös und kann sich nicht erklären warum. Bernie Stein kennt einen ähnlichen Zustand, der immer dann auftritt, wenn er ein paar Tage auf Schnaps verzichten muss. Aber das hier, diese Art Nervosität, die da aus dem Bauch in ihm hochkriecht, die fühlt sich anders an, feindselig, fremd, bedrohlich. Bernie fühlt kalten Schweiß auf seiner pickeligen Stirn. Aus dem Innern der Kirche hört er den auf- und abschwellenden Sprechgesang, doch die Worte versteht er nicht. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen.

Bernie schaut sich verstohlen um. Niemand soll sehen, dass er gleich in den Bus steigt. Überhaupt ist er froh, wenn er den Dorfleuten aus dem Weg gehen kann. Er traut niemandem hier. Erst neulich hat ihn der alte Elijah bei einem zufälligen Zusammentreffen so durchdringend angesehen, dass ihm schlecht wurde. Er hat dann gegen seinen eigenen Willen eine gerade weggeworfene leere Bierflasche wieder aufgehoben. Und eine Woche davor hat jemand ihn vor der Mühle in den Rücken gestoßen, so dass er hinfiel und sich das Knie aufschlug. Das war geschehen, nachdem er einen angebissenen saueren Apfel über den Zaun in den Vorgarten des Schulmeisters geworfen hatte. Die Plötzlichkeit des Schlages hat ihn ziemlich erschreckt. Doch als er sich umgedreht hat, um nach dem Schubser zu sehen und ihn mit seinen Fäusten zur Rechenschaft zu ziehen, da war niemand da, er stand ganz alleine auf der Dorfstraße. Und heute früh, als er im Keller nach dem Zigarettenpäckchen auf dem unteren Regalbrett gegriffen hat, da ist die Blechdose mit dem Nitroverdünner von ganz oben heruntergefallen. Dabei hatte er sie nicht berührt, ja nicht einmal angesehen. Während sie fiel, hat sich der Verschluss wie von Geisterhand aufgedreht und der ganze Verdünner ist ausgelaufen und hat ihn nassgemacht. Er konnte sich nicht mehr umziehen, denn dann hätte er den Linienbus verpasst. Eine ganze Woche ohne Alkohol und Zigaretten, das wollte Bernie sich nicht antun. So ist er mit den nassen durchtränkten Klamotten zur Bushaltestelle gelaufen.

Bernie Stein fürchtet sich neuerdings vor den Dörflern. Irgend etwas geht nicht mit rechten Dingen zu, das fühlt er. Doch er will in Winslow bleiben. Er will nicht wieder obdachlos sein.

Bernie Stein zieht ein Zigarettenpäckchen aus der rechten Hosentasche. Es ist feucht, aber der Glimmstängel darin, der letzte, ist noch in Ordnung. Er nimmt sein Feuerzeug, steckt ihn an, nimmt einen tiefen Zug, Das Papier zerknüllt er und lässt es neben sich fallen. Die können mich, denkt er. Alle.

Drinnen in der Kirche schwillt der kurz unterbrochene Sprechgesang erneut an. Draußen auf dem Kirchplatz frischt der Wind auf. Er fährt Bernie um die Beine.

Der ahnt nicht, dass die Zeremonie in der Kirche ihm gilt. Er weiß auch nicht, dass es seiner Mutter zwei Jahre vor seiner Geburt gelungen war, das Dorf zu verlassen, dass sie die Regeln gebrochen und aus Winslow entkommen war. Er kann nicht wissen, dass seine Mutter nach ihrer Flucht das Unglück magisch angezogen hatte, dass sie kaum älter als dreiundzwanzig in Armut und Elend starb, denn Bernie war damals erst drei Monate alt, und er wäre ebenfalls zugrundegegangen, hätte er nicht durch sein anhaltend lautes Gebrüll den Betreiber der billigen Absteige alarmiert, in der seine Mutter damals mit ihm hauste.

Bernie Stein kennt weder Mutter noch Vater. Er ist im Heim aufgewachsen, hat im Leben nie richtig Fuß gefasst, flog aus jedem Job und saß mehrmals wegen Diebstählen im Gefängnis. Er hat Monate auf der Straße gelebt und gebettelt, um zu überleben. Er war einer, dem alles misslang. Doch dann starb sein unbekannter Großvater mütterlicherseits. Bernie Stein erbte sein Häuschen in Winslow, zog vor einem Jahr ein und es schien, als würde sich das Blatt endlich wenden.

Das Haus, ein alter Fachwerkbau, liegt mitten im Dorfkern, direkt gegenüber vom Gemeindehaus. Als Bernie einzog, war es sehr gepflegt, sauber und gemütlich, mit einem hübschen Vorgarten. Der unbekannte Großvater hatte eine kleine Werkstatt an das hintere Teil des Hauses angebaut und eine Drechslerei eingerichtet. So hätte Bernie nach seinem Einzug ins Haus die Chance gehabt, seinem Leben eine dauerhaft positive Richtung zu geben. Doch stattdessen zog Freund Alkohol mit ihm ein und in kurzer Zeit verfiel das ehemals schmucke Anwesen. Im Haus türmte sich Unrat und auch der hübsche Vorgarten verwandelte sich, für jeden sichtbar und zum Verdruss aller, in eine Müllhalde. Bernie war unordentlich, wusch sich selten, rauchte und trank, zog im Suff grölend durch das Dorf, pöbelte jeden an, der ihm begegnete und schlug die mehrfachen Ermahnungen des Ortsvorstehers leichtfertig in den Wind. Er verletzte dadurch unablässig die bereits zitierte Regel Nr. 2, welche lautet:

Niemand fügt der Gemeinschaft Schaden zu.

Er gab sich uneinsichtig, rebellisch und aggressiv, ja er fand sogar Spaß daran, die Leute gegen sich aufzubringen. Und weil er sich um nichts kümmerte, nähere Kontakte mied und niemals ins Gemeindehaus ging, erfuhr er auch nichts über das Manifest und Hauptregel Nr. 3:

Übertretungen der Regel Nr. 2 werden hart bestraft.

07 Uhr 59: Noch immer ruft die versammelte Gemeinde ihren Meister an im Innern der Kirche.

Ja, Herr und Meister, fahre herauf,
singt die Gemeinde.
Fahre herauf und reinige.
Verbrenne die Brut, die Böses tut und reinige,

ruft der Priester, der sonst die Dorfschreinerei betreibt. Seine rechte Hand zeigt dabei auf den Weidenkorb vor dem Altar.

Herr, verbrenne und reinige,
Verbrenne die Brut, die Böses tut und reinige die Gemeinschaft,

antworteten die Winslower inbrünstig.

Die Gemeinde senkt die Arme. Alle Augen schauen jetzt zum Altar. Sie heben die linke Hand, strecken ihren Zeigefinger aus, sie fixieren mit ihren Blicken den Weidenkorb. Die unablässigen Beschwörungen und die vielen ausgestreckten Hände entwickeln eine ungeheure Kraft. Der Unrat im Korb beginnt sich zu bewegen, er wirbelt durcheinander, er will heraus aus seinem Behältnis. Wind entsteht, dann Sturm, aus dem Sturm wird ein Orkan, der sich fauchend einen Weg suchen wird, heraus aus der Enge und Begrenzung des Kirchenraumes.

08 Uhr 00: Draußen an der Haltestelle, kaum dreißig Meter von der Kirche entfernt, trippelt Bernie Stein unruhig auf und ab. Seine Nervosität hat zugenommen. Ihm ist übel und das ist ihm unangenehm, jetzt wo doch der Bus gleich kommen muss. Überhaupt müsste der schon hier sein, überlegt Bernie, er ist schon zwei Minuten überfällig. Bernie Stein beschließt, dem Fahrer beim Einsteigen kräftig Bescheid zu sagen, dass das so nicht geht und überlegt sich, wie er es formulieren soll. Er steckt absichtslos die linke Hand in die Hosentasche und die Hand packt das billige Feuerzeug und zieht es heraus. Bernie will es wieder einstecken, doch der Daumen schnippt stattdessen die Flamme an.
Und aus.
Und an.
Und aus.
Und an.

Bernie versucht vergeblich damit aufzuhören. Sein Daumen dreht am Rädchen und stellt die Flamme größer. Linke Hand und linker Daumen weigern sich ihm zu gehorchen.

An. Aus. An. Aus. Das Feuerzeug ist fast neu, es ist voll Benzin und die Flamme bedrohlich groß.

An. Aus. An. Wieder will Bernie das Feuerzeug in die Tasche zurückstecken, aber es klebt regelrecht fest in seiner Handfläche.

Aus. An. Aus. An.

Bernie schaut voll Entsetzen auf die Flamme.
Aus.
An.
Aus.
An. – Ein Knall zerreißt die Morgenstille. Die Erde bebt unter Bernies Füßen. Die Kirchentüre springt auf. Bernie Stein sieht die schwere Holzbohlentüre ein paar Mal gewaltig gegen die Seitenmauern schlagen. Dies ist seine letzte Wahrnehmung. Aus der offenen Kirchentüre rast ein gewaltiger Orkan auf ihn zu und reißt ihn von den Beinen. Im Fallen erfasst –
an.
Aus.
An – die Flamme des Feuerzeugs, größer, lodernder als zuvor, seine nasse, mit Nitroverdünner getränkte Kleidung. Er beginnt zu schreien. Eine höllische Hitze umschließt ihn, fährt hinein in seinen Mund und bringt ihn zum Schweigen.

08 Uhr 01: Der Dienst in der Kirche neigt sich dem Ende zu.

Danke Herr und Meister, dass du reinigtest,
dass du mit dem Gluthauch deines Atems
verbranntest die Brut die böses getan,

singt die Gemeinde.

Ja Herr, Dank sei Dir Herr,
mit dem Gluthauch Deines Atems
hast du uns erlöst von dem Bösen unter uns.
Gesegnet seiest du in Ewigkeit,

antwortet der Priester.

Amen,

antwortet die Gemeinde.

Der Priester hebt den kopfstehenden Fünfstern, der an einer goldenen Kette um seinen Hals liegt und küsst ihn. Dann löscht er nacheinander die sechs schwarzen Kerzenflammen. Es ist der erste Donnerstag im Oktober. Ein guter Tag. Die Gemeinde wendet sich dem Ausgang zu.

Es ist 08 Uhr 02 als der Linienbus die Haltestelle anfährt. Der Fahrer stellt den Motor ab und wartet ein paar Minuten. Heute steigt niemand ein, denkt er, wieder einmal habe ich mich umsonst die schmale Pass-Straße hochgequält. Als der Bus wieder anfährt wirbelt der entstehende Sog ein Häufchen dunkler Asche in die Luft und verstreut es über den windstillen Platz.

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Petra Koch 11.09.2011

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