Septemberlicht

Anfang Juni wurde der baufällige Geräteschuppen zwischen dem Viehstall und dem Futtersilo auf dem Gelände des Moorhofes abgerissen und nun ist auf einmal das Haus da. Es ist ein kleines einstöckiges, aus grauen Quadern gemauertes Haus mit einem schilfgedeckten, tief heruntergezogenen Dach. Efeu rankt sich über die halbe Seitenfront. Das Haus wirkt ätherisch und fremdartig. Es passt nicht ins hiesige Landschaftsbild. Und es ist schwer zu entdecken.

Der flüchtige Betrachter sieht in der Lücke zwischen dem Stall und dem Silo nur ein paar Mauerreste, einen Erdhaufen und einen rostigen Pflug. Lässt er den Blick schweifen, so sieht er auf Äcker und Grasland, das eine halbe Meile entfernt zu bewaldeten Hügeln ansteigt. In der Zeit zwischen Juni und Ende August habe auch ich in der entstandenen Lücke nur die Mauerbrocken, den Erdhaufen und den rostigen Pflug gesehen. Seit Anfang September sehe ich dieses Haus. Auch im September ist das Haus nicht immer da. An Regentagen ist es nicht zu sehen. Nur wenn die Morgensonne einen ganz bestimmten Winkel über dem Moorhof bildet, in der Zeit kurz vor sieben Uhr, ist das Haus sichtbar.

An jedem Werktag fahre ich kurz vor sieben Uhr mit dem Bus am Moorhof vorbei, auf dem Weg zur Arbeit, die Nase am Fenster plattgedrückt, um diesen Augenblick nicht zu verpassen. Und danach frage ich mich, ob ich der Einzige bin, der das Haus sieht. Denn dazu reicht nicht der flüchtige alltägliche Blick, nein es braucht den anderen, besonderen, mit dem man hinter die Dinge schauen kann. Ich besitze diese Gabe, doch ich kann nicht erklären warum.

Sie müssen erfahren, dass meine Herkunft ungewiss ist. Man fand mich im Alter von etwa acht Jahren halb verhungert und ohne jede Erinnerung in einem Tannenwäldchen, das zum Moorhof gehört. Die Dorfleute, einfache aufrichtige Bauernmenschen, nahmen sich meiner an und so wuchs ich als eines von zehn Kindern auf dem Springhansenhof auf. Heute bin ich dreiundzwanzig, arbeite als Automechaniker und bin mit meinem Leben zufrieden. Nie, seit ich hier im Dorf lebe, ist meine Erinnerung an die Zeit vor meinem achten Lebensjahr zurückgekehrt. Die Entdeckung dieses Hauses ist deshalb eine Sensation für mich. Denn ich kenne es - aus meinen Träumen.

In den ersten Septembertagen waren die Umrisse des Hauses undeutlich, als stünde es unter einer Nebelglocke. Doch mit der Zeit wurden seine Konturen schärfer und ich konnte Einzelheiten erkennen: ein großes geschlossenes Fenster an der Vorderfront des Hauses und rechts von diesem Fenster, ebenfalls geschlossen, die wuchtige Haustür. Wenn es regnete, das Haus also unsichtbar war, schien mir der ganze Tag verdorben. Stieß ich um fünf Uhr früh die Fensterläden auf und der wolkenlose Himmel verhieß einen sonnigen Tag, war ich regelrecht glücklich. Denn in der Morgensonne zeigt sich mir das Haus.

Das Haus veränderte sich. Um den achten September herum war das Fenster plötzlich offen. Einen Tag später führte ein schmaler Pfad von der Haustür zu einem gemauerten Brunnen. Ein großer Birnbaum tauchte aus dem Nichts, mit einer alten Schaukel, die im Wind hin und her schwang. Ich sah den Baum und wünschte mir, in seinen Ästen herumklettern zu können wie ein kleiner Junge. Am Abend des elften September stieg ich auf der Heimfahrt früher aus dem Bus, um mir das seltsame Haus näher anzuschauen. Es war nicht zu entdecken. Ich umschlich den Fleck, wo der Geräteschuppen gestanden hatte. Innerhalb seiner ehemaligen Umrisse untersuchte ich jeden Zentimeter Boden, jedes Grasbüschel. Ich stocherte mit dem Fuß in dem Erdhaufen, auf dem sich Unkraut breit machte, betastete den rostigen Pflug. Die ganze Zeit über fühlte ich das Haus, seine Präsenz war unverkennbar. Meine Suche blieb jedoch erfolglos: Nirgendwo gab es einen greifbaren Hinweis, dass das Haus existiert. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hockte ich neben dem Pflug im Gras mit widerstreitenden Gefühlen: einer Mischung aus verzehrender Sehnsucht und tiefer Enttäuschung. Ich war den Tränen nah.

Am vierzehnten September erschien die alte Frau im Fenster. Am fünfzehnten winkte sie mir zu und ich erschrak furchtbar, denn auch die Frau kannte ich - aus meinen Träumen. Bei ihrem Anblick brach etwas lang Verschüttetes in meinem Innern auf: ein Name formte sich - Joshua. Die zehn Sekunden, die der Bus täglich braucht, um auf der Dorfstraße am Moorhof vorbeizufahren, dehnten sich ab diesem Tag als stünde die Zeit still. Und nie habe ich schärfer gesehen als Mitte September. Meine Augen schienen ein Fernglas zu sein. Die alte Frau winkte mir zu.

Joshua komm heim, sagte sie, ich konnte es von ihren Lippen ablesen. Ich hörte ihre Stimme in meinem Herzen.

Joshua, bin das ich? Ihre Stimme klang verzweifelt, als habe sie diesen einen Satz schon tausendmal gesprochen. Joshua...! Ruft sie mich? Die Augen der Frau sind blau wie der Septemberhimmel. Sie trägt ein smaragdgrünes Kleid mit einem weißen Kragen. Ihr dunkles Haar ist grau geworden seit Joshua gegangen ist. Sie ist traurig. Zwischen der alten Frau und mir hat sich eine wortlose Kommunikation entwickelt. Es ist als würden wir uns schon lange kennen. Ihre Gedanken sind in mir. Die Frau hat die Haustüre geöffnet, damit Joshua heimkehren kann. Bin ich Joshua? Ich weiß es nicht, doch es wäre möglich.

Am zwanzigsten September zog ein Tiefdruckgebiet von Westen heran und es regnete sieben Tage lang. Ich war deprimiert. Das Haus war wieder unsichtbar, doch in mir vernahm ich Morgen für Morgen die Bitte der Frau: Joshua komm heim! Drängender - verzweifelter, je länger der Regen anhielt und schließlich nicht mehr so laut und klar, sondern immer leiser werdend. Mittlerweile glaube ich, Joshua zu sein. Wie kann ich so mitfühlen, mitleiden mit ihr, wie kann ich so angefüllt mit Sehnsucht nach diesem kleinen efeubewachsenen Häuschen sein, wenn ich nicht Joshua bin?

Ich erbat mir vier Tage Urlaub, streifte stundenlang über das Gelände beim Moorhof, in meinem gelben Gummimantel, der den Regen abhält, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ich spürte die Anwesenheit des Hauses, doch nicht mehr so stark wie Mitte des Monats. Nichts wünschte ich mir mehr als Sonnenschein.

Heute nun, nach sieben trostlosen Regentagen ist Gott sei Dank die Sonne da. Glücklich darüber bestieg ich den Bus, doch als er sich dem Moorhof näherte, merkte ich, dass sich etwas Wichtiges verändert hat: die Zeit hat eine andere Qualität angenommen. Das Vorüberfahren dauert wieder nur die üblichen zehn Sekunden, der Augenblick dehnt sich nicht mehr auf geheimnisvolle Weise.

Welche Erleichterung für mich, das Haus zu sehen! Und welche Enttäuschung zugleich! In den zehn Sekunden erkannte ich, dass die Konturen des Hauses und seiner Umgebung während der Regentage unscharf, ja gleichsam fließend geworden sind. Alles befindet sich in einem Zustand der Auflösung, genau wie die Stimme der Frau, die nur noch heiser flüstert. Sie steht nicht mehr am Fenster, doch die Haustür ist noch offen. Eine blaugraue Nebelglocke hängt wieder über dem Haus, wie Anfang September. Das ist kein gutes Zeichen. Es beunruhigt mich und ich weiß nicht warum.

Die Hoffnungslosigkeit in der Stimme der alten Frau und ein Anflug von Panik in meinem Innern brachten mich dazu, an der nächsten Haltestelle aus dem Bus auszusteigen und zum Moorhof zurückzulaufen. Ich will nicht, dass die alte Frau noch länger traurig ist und dass das Haus verschwindet, das ich aus all meinen Träumen kenne, seit ich oben im Wald gefunden wurde, vor fünfzehn Jahren. Denn wenn das Haus im Nichts verschwindet, wird Joshua nie nach Hause finden. Bin ich Joshua?

Die Zeit und die Umstände drängen mich, eine Entscheidung zu treffen - sofort, denn es ist kurz vor sieben Uhr früh und das Haus steht ganz nah vor mir im Sonnenlicht. Es ist sehr unscharf, aber es ist da! Ich muss versuchen, in dieses Haus hinein zu gelangen, schnell. Denn es löst sich auf. Der fremdartige Nebel macht das Haus und seine Umgebung instabil. Ich bete, dass es mir gelingt, den Nebel zu durchdringen, der das Haus umschlossen hält. Denn nur dann kann ich den schmalen Pfad hinaufgehen, der zum Hause führt, vorbei an dem gemauerten Brunnen und dem Birnbaum, in dessen Zweigen die alte Schaukel hängt. Nur wenn ich mich in diesem Nebel nicht verirre kann ich durch die geöffnete Haustüre treten und hineingehen in das Zimmer der alten Frau, die Joshuas Mutter ist. Nur wenn ich durch den Nebel finde, kann ich sie in die Arme nehmen und erfahren, ob ich Joshua bin, ob Joshua heimgekommen ist.

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Petra Koch

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