Taxi nach Manderloo

Spätherbst 1994

Zweieinhalb Meilen hatte ich mich mit meinem alten Mercedes-Taxi auf dem engen und holprigen Holzfällerweg bergauf gequält, da endete dieser nicht in dem Nest namens Howards Field, wie ich es erwartet hatte, sondern vor einem riesigen Felsblock, der jede Weiterfahrt verhinderte. Ich hatte mich in dem unwegsamen Gelände der Blackberry-Hills verfahren und irgendwo auf halber Höhe den an eine Fichte genagelten Wegweiser Howards Field übersehen. Das war frustrierend, denn bald würde es hier oben in den Bergen tiefe Nacht sein. Ferner Donner und auffrischender Wind kündigten zudem ein Unwetter an. Die ersten Regentropfen klatschten schon auf das Wagendach. Ich wendete das Taxi.

Wir hatten dieses Jahr einen wunderschönen Indianersommer gehabt und Ende Oktober wurde es in den Blackberry-Hills mit seinen düsteren, dichten Fichtenwäldern früh dunkel. Ich fuhr aufmerksam talwärts. Jetzt um halb sechs Uhr abends dämmerte es bereits und das Unwetter war mir dicht auf den Fersen. Mir fielen die Sagen und Legenden aus der Region ein, die meine Fahrgäste, Iris und Robert Makintosh, beide Immobilienmakler aus Milwaukee, auf der Hinfahrt nach Howards Field erzählt hatten: von Geistern, die im Wald ihr Unwesen trieben und die man in Sturmnächten wehklagen hörte, von Seelen auf der Suche nach Wiederverkörperung und allerlei anderes. Natürlich konnten mich solche Geschichten nicht erschrecken, doch das Szenario um mich herum schien geradezu zum Gruseln geschaffen und ich sehnte mich danach, endlich die Abzweigung nach Howards Field zu sehen.

Dieser Ort, über der Baumgrenze gelegen, war ein in den Blackberry-Hills beliebtes kleines Skiparadies gewesen, bis vor elf Jahren eine Staublawine mitten in der Skisaison einen ganzen Hang mit zwölf Blockhäusern und ein Hotel unter sich begraben und 76 Menschen das Leben gekostet hatte. Kaum jemand wollte nach der Katastrophe in Howards Field noch Skilaufen und so fanden sich keine Geldgeber für den Wiederaufbau. Lediglich die Makintoshs, deren außerhalb gelegenes Blockhaus damals verschont geblieben war, verbrachten ihre sechs Wochen Urlaub im Jahr noch immer dort oben. Vor zwölf Tagen waren sie am Flugplatz von Red Oakes mit drei Koffern beladen zufällig in mein Taxi gestiegen. Sie ließen sich die fünfundneunzig Meilen zu ihrer Blockhütte hinauffahren (wobei Mr. Makintosh auf den letzten zwei Meilen vergnügt den Lotsen spielte) und vereinbarten mit mir den heutigen Abholtermin. Für diese Fahrt bezahlten sie knapp einhundertundzwanzig Dollar. Die Hälfte davon gehörte mir. Ich konnte wirklich jeden Cent gebrauchen, denn das Pech klebte seit langem recht zäh an meinen Fersen.

Vor zwei Jahren habe ich mein Studium der Volkswirtschaft abgeschlossen, aber trotz meiner Qualifikation in Lansing/Michigan, wo ich damals mit meiner Verlobten Angie wohnte, keine adäquate Anstellung gefunden. Statt mich wenigstens moralisch bei der Jobsuche zu unterstützen, flüchtete Angie in die Arme eines erfolgreicheren Typen und verließ mich nach vier gemeinsamen Jahren. Das hat mich schwer getroffen. Bald darauf konnte ich die hohe Miete für unsere Wohnung nicht mehr bezahlen und mein Vermieter kündigte mir. Fertig mit der Welt und zutiefst verzweifelt, trug ich danach meine wenigen Besitztümer ins Pfandhaus und verließ die Stadt. Es war Sommer, ich zog von Ort zu Ort und verdiente mir als Straßenmaler oder Farmarbeiter die paar Cents, die ich zum Überleben brauchte. Anfang November las mich ein Trucker an einem Highway auf und nahm mich mit in eine Kleinstadt namens Red Oakes, Montana. Bis Anfang Februar arbeitete ich als Tellerwäscher in einem Fast-Food-Restaurant. Dann fand ich einen Job an einer Shell-Tankstelle. Mrs. Singer, mein Boss, besitzt neben der Tankstelle auch zwei Taxen. Ich besorgte mir eine Lizenz und seither bin ich fast nur noch als Taxifahrer im Einsatz. Das ist wesentlich besser als die Tellerwäscherei, aber bei Weitem kein Job, den ich für den Rest meines Lebens machen möchte.

Ich war etwa eine halbe Meile talwärts gefahren, als der Sturm mit einer Gewalt losbrach, dass ich fürchtete, ich würde nicht mehr lebend aus den Blackberry-Hills herauskommen. Regen prasselte auf die Scheibe. Trotz des eingeschalteten Fernlichts konnte ich kaum noch etwas sehen. Der Wagen schlingerte gefährlich auf dem aufgeweichten Waldboden. Plötzlich krachte ein gewaltiger blauer Blitz etwa dreißig Yards vor mir in den lockeren Hang und fällte eine Fichte, die sich in meine Richtung neigte. Aus den Augenwinkeln nahm ich einen nach links abzweigenden Weg und ein verwittertes Holzschild Manderloo 1,5 Meilen wahr. Ich riß das Steuer herum und schlitterte ein Stück in den Weg hinein. Einige Fichtenäste streiften die Kühlerhaube des Taxis und mir blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Doch die unmittelbare Gefahr war vorüber, doch ich hatte keine Wahl mehr: Um aus den verdammten Blackberry-Hills herauszukommen, musste ich dem alten Wegweiser folgen. Ich hoffte, die Makintoshs würden mich nicht verklagen, weil ihnen durch mein Mißgeschick ein wichtiger Termin platzte oder ihnen einfach danach war, mir eins auszuwischen.

Von Manderloo hatte ich noch nie gehört. Also stoppte ich den Wagen an einer günstigen Stelle, zog die Handbremse an, trat zusätzlich auf die Bremse, weil der Weg sehr abschüssig war und schaltete die Innenbeleuchtung ein. Ich fingerte die neueste Straßenkarte aus dem Handschuhfach, doch es war enttäuschend: so gründlich ich auch suchte, laut Karte gab es in ganz Montana keinen Ort namens Manderloo.

Draußen war es jetzt dunkel und unheimlich. Der Tag war warm gewesen und der Wald dampfte. Zwischen den hohen Fichten zogen helle Nebelfetzen dahin und die Makintosh'schen Gespenstergeschichten taten ihre Wirkung: die Nebelfetzen schienen mir wie umherwandernde Seelen auszusehen. Das Ächzen der Bäume, die sich im Sturm bogen, klang in meinen Ohren wie wehklagende Geisterstimmen und wenn tief hängende Zweige über die Windschutzscheibe schrammten, fuhr mir ein Schauer über den Rücken. Der Wagen holperte über freigelegte Wurzeln und schlingerte über nasses schlüpfriges Laub. Ich befürchtete, dass der alte Wagen diese Tortur nicht unbeschadet überstehen würde.

Der Weg nach Manderloo führte in steilen Kehren bergab und mehr als einmal fürchtete ich, über eine Felsnase in einen Abgrund zu stürzen.

Der Junge stand so plötzlich vor mir, als wäre er innerhalb einer Zehntelsekunde aus dem Waldboden gewachsen. Ich bremste, doch der Wagen brach auf dem schmierigen Untergrund aus und erfaßte den Jungen mit dem linken Kotflügel. Das hatte mir noch gefehlt! Wieder trat ich auf die Bremse. Der Wagen bockte und stand. Der Junge kauerte auf dem Boden. Als ich die Wagentüre öffnete, rappelte er sich hoch und hinkte, beide Hände auf sein rechtes Knie gepresst, auf mich zu.

Mein Gott, sagte ich, wo kommst du denn her, um diese Zeit und in dieser verlassenen Gegend? Er antwortete nicht, doch seine schwarzen Augen sahen mich neugierig an. Sie glänzten wie nasse Kohlen.

Komm setz dich in den Wagen, sagte ich, wo willst du denn hin?

Manderloo, preßte er zwischen den Zähnen hervor und zeigte dabei nach vorn.

Es gibt kein Manderloo in Montana, sagte ich und nahm die Karte vom Beifahrersitz, schau selbst.

Ich zeige dir, fahr du nur, sagte er in einem fremdartigen Dialekt.

Hast du dir wehgetan? Ich zeigte auf sein Knie.

Nein, iss' nichts, antwortete er. Er sprach, als hätte er Erde zwischen den Zähnen, er roch auch erdig, wie verrottetes Laub oder totes Holz und ein bißchen wie nasses Hundefell. Er trug eine schäbige ausgefranste Hose aus braunem, dicht gewebtem Leinen und ein graues Schafwollwams über einem blauen Hemd, das am Hals mit einer Kordel gebunden war. Seine Kleidung war sonderbar. Er trug keine Schuhe und seine Füße waren bis unter die Knie voll Schlamm. Er wirkte ziemlich heruntergekommen. Seine blonden Haare waren lang und verfilzt, Erdklumpen und kleine Zweige hingen darin. Ich bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, was die wirre Haarpracht sonst noch alles beherbergen könnte.

Fahr du bitte jetzt, bat er. Ich drehte den Zündschlüssel und wir fuhren los. Nach einer Weile ließ der Sturm nach und etwas weiter talwärts hörte es sogar auf zu regnen. Mein Fahrgast war sehr schweigsam.

Wie heißt du Junge, fragte ich. Er blieb mir die Antwort lange schuldig. Als ich schon glaubte, sie käme nie mehr, sagte er leise in die Stille hinein:

Jorrie. Ich bin Jorrie.

Ich hatte das Gefühl, schon eine halbe Ewigkeit in den Blackberry-Hills unterwegs zu sein, seit ich kurz nach vier Uhr nachmittags vom Highway heruntergefahren war. Doch meine Armbanduhr zeigte 7.15 Uhr abends, Zeit für die Nachrichten von KBC.

Magst du Radio hören? fragte ich den Jungen. Weiß nicht, antwortete er. Ich drückte den Knopf mit den gespeicherten Daten des Lokalsenders KBC. Aus dem Apparat kam statt der erhofften Nachrichten nur ein gleichmäßiges statisches Rauschen. Ich suchte alle Kanäle ab. Nicht nur KBC war unauffindbar, es rauschte auch auf den übrigen fünf Kanälen. Genervt schaltete ich das Radio wieder aus.

Schlechter Empfang, sagte ich. Der Junge schaute mich mit einem sonderbaren Blick an.

Zwei, drei Kehren später wurde der Weg besser und auch etwas breiter. Der Fichtenwald lichtete sich. Trotz der Dunkelheit ringsum lag ein eigenartiges Zwielicht zwischen den Stämmen. Der Junge saß mit unbewegtem Gesicht da, die Hände im Schoß verschränkt. Einige Male musterte er mich verstohlen von der Seite, als versuche er abzuschätzen, mit wem er es zu tun hätte. Sein Geruch und seine düstere Ausstrahlung erfüllten den ganzen Wagen. Der Gedanke an das statische Rauschen im Radio beunruhigte mich. Eine ungewöhnliche Spannung lag zwischen uns und mir war mittlerweile recht unheimlich zumute.

Eine Kurve noch und eine zweite und auf einmal war die Nacht vorbei und eine seltsame milchige Dämmerung lag über dem Wald. Zwischen den Fichten wuchsen jetzt vereinzelte Buchen und durch die Baumstämme hindurch konnte man weit entfernt Hügel sehen. Noch einmal versuchte ich, wenn auch vergeblich, KBC zu finden. Der Junge beobachtete mich aus den Augenwinkeln. Seit er in den Wagen gestiegen war, hatte ich vielleicht fünfmal auf meine Armbanduhr gesehen und als ich es jetzt wieder tat, durchfuhr mich ein höllischer Schreck: Statt der erwarteten 7.30 Uhr abends zeigte sie plötzlich 6.30 Uhr und der Sekundenzeiger, ich schwöre es bei meiner Seele, der Sekundenzeiger tickte langsam und stetig linksherum, als liefe die Zeit auf einmal rückwärts. Und das tat sie auch wirklich, denn außerhalb des Wagens schien wieder die Abendsonne! Der Wald lag nun hinter uns und ich sah in ein kleines Tal mit Wiesen, die zu bewaldeten Hügeln anstiegen.

In der realen Welt, der ich noch vor zwei Stunden angehörte, hatten wir soeben den Indianersommer verabschiedet und bereiteten uns auf den Totenmonat November vor. Hier aber wuchs auf den Wiesen gelb leuchtend der Löwenzahn und neben uns blühten die Schleedornsträucher. So verrückt es klingen mag: Ich befand mich gerade in einer Frühlingswelt, mitten im Monat Mai. Ich bremste das Taxi und schaute fasziniert durch die Windschutzscheibe nach draußen, wo sich mit der rückwärts laufenden Zeit auch der Sonnenstand über der Landschaft von Minute zu Minute veränderte, synchron mit dem schnellen gleichmäßig rückwärts laufenden Sekundenzeiger meiner nagelneuen Seiko. Es war unfassbar. Etwas Unheimliches ging hier vor sich. Der Junge hatte die Augen geschlossen und summte leise vor sich hin. Ich drehte das Seitenfenster herunter. Kein Lüftchen wehte, ich hörte kein einziges Geräusch.

Der Junge tippte an mein Knie. „Du, fahr weiter bitte”, bettelte er mit leiser Stimme.

Okay, sagte ich, kannst du mir erklären...? Er schüttelte den Kopf, bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte. In seinen Augen flackerten kleine blaue Flammen.

Manderloo, begann er etwas später zu flüsterten, Manderloo , immer nur dieses eine Wort und dazu schaukelte er auf seinem Sitz vor und zurück, als befände er sich in Trance. Seine Stimme klang dabei pfeifend wie Sturm, der durchs Unterholz rast, dann wieder knarrend wie das Brechen von großen Ästen, dazwischen wie das Scharren kleiner Tiere, die sich aus der Tiefe der Erde heraus ans Tageslicht graben: Manderloo, Manderloo, Manderloo. Ich hörte es und ich fror.

Wir fuhren in das Tal hinein. Die Sonne wanderte von West nach Ost, und die Zeit lief rückwärts in unvorstellbarer Geschwindigkeit. Meine Uhr zeigte plötzlich zwölf Uhr mittag, und eine viertel Meile später elf Uhr und hundertfünfzig Yards weiter neun Uhr vormittags, dann acht Uhr, sieben Uhr. Um 06.30 Uhr, der Sonnenaufgang über den östlichen Hügeln sah einfach märchenhaft aus, rief der Junge laut: Du! Halt!

Ich stoppte sofort. Manderloo, sagte der Junge aufgeregt, da schau!

Das Haus...Vor uns erkannte ich ein kleines aus Natursteinen gemauertes Haus, einen Schuppen oder Stall und einen alten Brunnen. Eine hölzerne Umzäunung umgab das ganze Anwesen. Aus dem Schornstein kam kein Rauch, weder Mensch noch Tier waren zu sehen. Aber der Junge lachte jetzt und seine Augen strahlten. Manderloo, lachte er glücklich, Manderloo. Einen Augenblick später sagte er:

Ich bezahle dich jetzt und nestelte in seinem Wams.

Ich glaube nicht, dass du genug Geld hast, um den Fahrpreis zu bezahlen, wandte ich ein, ich hab dich umsonst mitgenommen. Es ist schon in Ordnung. Er sah mich an und in seinen großen schwarzen Augen glänzten Tränen.

Bezahlen, flüsterte er, bezahlen bitte.

Nun gut Jorrie, antwortete ich, wenn du willst. Laß sehen, was du hast. Ich hielt ihm meine Linke hin, den Handteller nach oben. Er kramte eine Kupfermünze aus dem Schafwollwams und legte sie in meine Hand. Noch nie in meinem Leben habe ich eine solch seltsame Münze gesehen: Sie war etwa dreimal so groß wie ein Zehncentstück und zeigte auf der Kopfseite eine reife Weizenähre in einem Sonnenkreis und auf der Zahlseite den Vollmond und darin ein Muster, das der Doppelhelix sehr ähnlich war.

Danke, sagte ich, bist du sicher, dass du mir die Münze geben willst? Sie ist sehr wertvoll.

Ja, sagte der Junge und nickte, sie gehört jetzt dir. Er reichte mir eine Hand voller Schrunden und Risse und kalt wie Eis. Seine Fingernägel hatten breite schwarze Ränder, wie jemand, der vor kurzem in der Erde gegraben hat. Danke, sagte er artig. Danke dir. Ich gehe jetzt und du fahr zurück. Da entlang.

Der Junge zeigte nach rechts und ich bemerkte, dass sich etwa fünfzig Yards vor uns der Weg teilte. Der eine führte zu dem Anwesen, das der Junge Manderloo nannte, und das still im Licht der Morgensonne lag, der andere Weg verschwand, meinem Blick verborgen, hinter einem Holundergehölz. Ich half dem Jungen, die Wagentüre zu öffnen.

Auf Wiedersehen, Jorrie, sagte ich. Er nickte und lächelte scheu. Dann stieg er aus und ging, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen, auf sein Manderloo zu.

Ich fuhr um das Gehölz herum, wie der Junge mich geheißen hatte. Drei, vier Minuten später begann ganz unverhofft die Abenddämmerung. Die Zeiger meiner Seiko eilten jetzt wieder im Uhrzeigersinn vorwärts, und nach weiteren fünf Minuten umgab mich stockfinstere Nacht. Ich schaltete das Fernlicht ein. Der Weg, den der Junge mir gezeigt hatte, war gut zu fahren. Ich drückte den KBC-Knopf. Das Radio zischte und rauschte noch ein paar Yards lang, dann sprang der Sender klar und deutlich herein und ich hörte das Ende des Wetterberichtes. Darüber war ich sehr erleichtert. Nach weiteren fünfzehn Minuten Fahrt durch die Nacht kam ich an eine Kreuzung mit dem Hinweisschild:

Morley 1 Meile.

Am Ortseingang sah ich das beleuchtete Schild einer Kneipe. Ich parkte mein Taxi neben einem schäbigen blauen Chevrolet und ging die ausgetretenen Steinstufen hinauf in den Gastraum. Wenn die Kneipe ein Telefon besaß, würde ich in Howards Field anrufen und die Makintoshs über mein Mißgeschick informieren.

Die Gaststube war ein holzgetäfelter, schlecht beleuchteter und unappetitlich wirkender Raum. Es gab vier Tische in der Gaststube, aber nur an einem saß ein dürrer grauhaariger Alter, nippte an einem Schnapsglas und las in einem zerfledderten Magazin. Auf den zerschlissenen Barhockern vor dem Tresen hockten zwei rotgesichtige Typen in speckigen blauen Overalls und grünkarierten Hemden und hielten sich an ihren Biergläsern fest. Mein Eintreten weckte nur kurz ihr Interesse. Ich muß telefonieren, sagte ich dem Wirt, und möchte eine kalte Limonade und einen großen Hamburger.

Der Wirt zeigte auf das Telefon in der Ecke und ich kramte die Makintosh'sche Nummer und einen Nickel aus der Jackentasche, rief sie an und berichtete, dass ich mich verfahren hätte. Sie lachten darüber und sagten, in der Nacht wäre in Howards Field viel Schnee gefallen und sie würden gerne noch bleiben um Ski zu laufen. Wir vereinbarten einen neuen Abholtermin nach dem Wochenende. Danach gaben sie mir noch eine ausführliche Wegbeschreibung und ich legte erleichtert den Hörer auf.

Die Limonade war kalt und nicht zu süß und der Hamburger wider Erwarten ausgezeichnet. Ich bestellte noch einen. So spät noch unterwegs, sagte der Wirt neugierig. Er schob mir den zweiten Hamburger zu. Was macht ein Fremder um diese Zeit in einem verschlafenen Nest wie Morley?

Hab mich verfahren oben in den Blackberry Hills. Bin dann bei Manderloo gelandet und schließlich hier, erklärte ich ihm in kurzen Worten. Die beiden Typen, die ununterbrochen in ihr Bierglas gestarrt hatten, setzten sich bei dem Wort Manderloo wie auf Kommando kerzengerade auf und schauten zu mir her. In ihren Gesichtern arbeitete es. Sie sahen einander an, glitten unbeholfen von ihren Hockern und trabten gemeinsam zum Ausgang. Der Wirt wischte sich mit einem schmutzigen Handtuch kleine Schweißperlen von der Stirn. Was ist los mit Manderloo, fragte ich den Wirt. Nichts, gar nichts, sagte er stotternd und verschwand in der Küche.

Ich blieb am Tresen sitzen und verzehrte den Hamburger. Der Wirt ließ sich nicht mehr sehen, nicht einmal, um die Zeche zu kassieren. Nach einer angemessenen Wartefrist legte ich einen Dollar neben das Limonadenglas, verließ die Kneipe, setzte mich in mein Taxi und schlug die Straßenkarte auf. Ich fand Morley und legte die Route für meine Heimfahrt nach Red Oakes fest.

Es regnete wieder. Ich wollte starten, da sah ich den Alten, der in dem Magazin gelesen hatte, aus der Gasthaustür treten. Er gestikulierte wild mit den Armen und machte mir Zeichen zu warten. Ich drehte das Seitenfenster herunter. Sie wollen doch was wissen über Manderloo. Könnte ihnen was drüber sagen. Leichter Schnapsatem wehte mir ins Gesicht. Okay, sagte ich, und? Der Alte rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Was ist es ihnen wert? Ich steckte ihm einen Dollar zu.

Wissen sie, begann er zu erzählen, es ist über 100 Jahre her, da kam ein junges Paar, Marie und Pieter Willems, gebürtige Niederländer, von der Ostküste nach Morley. Sie bezogen ein leerstehendes kleines Haus in der Mainstreet. Die Willems waren gebildet, sie lasen Bücher und liebten klassische Musik. Sie spielten beide Klavier. Sie waren anders als die Einheimischen, die ihrem Broterwerb als einfache Farmer und Handwerker nachgingen. Dem sonntäglichen Gottesdienst blieben die Willems fern, denn statt ihr Leben nach den biblischen Geboten auszurichten, wie es in Morley allgemeiner Brauch war, glaubten sie an Seelenwanderung und Wiedergeburt und verschwiegen dies auch nicht. Marie Willems sammelte zudem das ganze Jahr über Kräuter und Pilze, bereitete Tees und Arzneien daraus zu. Sie kannte sich in der Heilkunde aus. Das war zur damaligen Zeit eine unschätzbare Gabe, weil es im Umkreis von fünfzig Meilen um Morley keinen Arzt gab. Freigiebig bot Marie Willems daher jedermann Rat und Hilfe an. Anfangs versuchten die beiden jungen Leute, die Nachbarn mit ihrer fremdartigen Lebensweise vertraut zu machen. Doch trotz all ihres Bemühens um Integration blieben sie Außenseiter und fanden keinen Zugang zur Dorfgemeinschaft. Die Leute hier haben halt ihre eigenen Vorstellungen vom Leben und erwarten eine gewisse Anpassung an die Regeln. Dreimal geriet Pieter Willems unverschuldet in eine Schlägerei mit den Trunkenbolden von Morley, weil er sich gegen ihre Pöbeleien mit markigen Worten wehrte. Die Frauen von Morley tratschten über Marie Willems und nannten sie eine Hexe, die auf den Scheiterhaufen gehöre. Es gab niemanden im Ort, der das junge Paar gegen diese Anfeindungen schützte, auch der Sheriff nicht. Als der Krämer, unter Druck gesetzt von Mitgliedern des Kirchengemeinderates, sich weigerte, den Willems Waren zu verkaufen, obwohl die niemals anschreiben ließen, da hielten die beiden es im Dorf nicht mehr aus. Pieter Willems stieg hinauf in die Blackberry-Hills und suche einen Platz, an dem er sich niederlassen konnte. Er grub als erstes einen Brunnen. Es gibt gutes Wasser da oben in den Blackberry-Hills und als der Brunnen fertig war, da bauten er und Marie mit eigenen Händen das Haus und einen Viehstall. Danach packten sie ihr Hab und Gut im Dorf zusammen und zogen in die Berge. Sie bauten Gemüse an und etwas Hirse und Kartoffeln, sie kamen selten herunter ins Dorf. Sie kauften eine gute Milchkuh und zwei Ziegen und als sie den ersten Winter überlebt hatten, die Winter sind hart in den Blackberry-Hills müssen sie wissen, da beschlossen Pieter und Marie Willems, für immer zu bleiben. Sie nannten ihr Zuhause Manderloo. Im zweiten Sommer in Manderloo, 1878 glaub ich, bekamen sie einen Jungen, den sie Jorrie nannten. Der Junge wuchs in den Blackberry-Hills auf, die Willems unterrichteten ihn selbst. Bis zu seinem elften Lebensjahr hat Jorrie seinen Vater höchstens viermal nach Morley begleitet. Mit der Zeit ging so mancher Dorfbewohner heimlich nach Manderloo hinauf, um sich Marie Willems Tees und Pülverchen zu holen. Der neue Krämer, ein aufgeschlossener und toleranter junger Engländer, nahm im Tausch gegen Salz und Mehl einige von Maries Kräutern und Arzneien in sein Sortiment. Und so hätte zum Schluß doch noch alles gut werden können, wären da nicht die zwei, drei Raufbolde gewesen, die' s in jedem Dorf gibt und die immer auf Ärger und Prügeleien aus sind. Eines Tages, Mitte Mai 1889, da beschlossen diese Rowdys in die Blackberry-Hills zu gehen und den Willems richtig einzuheizen, einfach so zum Spaß. Niemand weiß genau, wie es vor sich gegangen ist. Weil die Burschen im Suff erzählten, sie hätten es den Willems so richtig gegeben, ging der Sheriff hinauf nach Manderloo, um nachzusehen, ob an der Sache mehr wäre als Prahlerei. Er fand Pieter in der Nähe des Stalles und Marie im Gemüsegarten, beide tot und entsetzlich zugerichtet. Die Burschen hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten die Beete mit den Setzlingen zertrampelt, der Kuh und den Ziegen auf der Weide die Bäuche aufgeschlitzt und um ihre Spuren zu verwischen, Feuer gelegt. Das ganze Anwesen ist in Flammen aufgegangen und bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Den Jungen, Jorrie Willems, konnte der Sheriff weder im Hause noch außerhalb finden. Ein Trupp Freiwilliger hat ihn tagelang gesucht. Sie sind sogar in den Brunnen gestiegen. Einige Unermüdliche, durch die grausame Tat aufgerüttelt, sind mit dem Sheriff bis Ende Juli 1889 noch durch die Wälder der Blackberry-Hills gestreift, um den Jungen zu suchen, weil man annahm, dass er einen Schock erlitten und die Orientierung verloren haben könnte. Bei Gott, ich glaube, die haben jeden Stein da oben umgedreht, aber sie fanden den Jungen nicht. Im November 1889, eine Woche, nachdem Montana 41. Staat der Union geworden war, machte man den drei Burschen den Prozeß und kurze Zeit danach wurden sie hingerichtet.

Sie wissen viel über Manderloo, unterbrach ich den Alten, warum hat sich der Wirt da drin so schnell aus dem Staub gemacht, als ich sagte, ich wäre dort gewesen?

Ja wissen Sie, antwortete er, die Leute, vor allem diejenigen, deren Vorfahren die Willems kannten, sind sehr abergläubisch. Niemand redet hier über Manderloo. Ich kam erst als Dreißigjähriger nach Morley und war bis zu meiner Pensionierung der Dorflehrer. Hab mich für Morleys Vergangenheit interessiert und daher die alten Chroniken studiert. Dabei bin ich auf die Prozeßakten gestoßen, bin der Sache gegen viele Widerstände nachgegangen und weiß darum alles darüber. Man hat Pieter und Marie Willems auf dem Friedhof hinter der Dorfkirche begraben, quasi als Wiedergutmachung für all das Schlechte, das man ihnen angetan hat. Der Grabstein ist noch da, falls sie ihn sehen wollen. Weil sie den jungen Jorrie Willems nicht fanden, erklärte man ihn im Frühjahr 1891 für tot und das war's dann.

Und, fragte ich, ist er das, tot? Der Alte sah mich an und in seinen Augen spiegelte sich das Entsetzen. Sie haben ihn gesehen, nicht wahr?

Ich hab einen Jungen aus dem Wald, der sich Jorrie nannte und nach Manderloo wollte, in meinem Taxi mitgenommen, sagte ich. Der junge Willems, würde er noch leben, müßte heute ja über hundert Jahre alt sein. Der zahnlose Alte wiegte den Kopf. Ich konnte sehen, wie es hinter seiner zerfurchten Stirn arbeitete.

Will ihnen keine Angst machen, sagte er dann zögernd. Wissen Sie, im Frühjahr 1895, nach der Schneeschmelze, sind Waldarbeiter oben in den Blackberry-Hills, weit entfernt von der Hütte der Willems, auf ein Jungenskelett gestoßen, das ein blaues Hemd und ein Schafwollwams trug. Der Krämer, dem das zu Ohren kam, behauptete, er habe Jorrie, als der das letzte Mal mit seinem Vater von Manderloo herunterkam, in einer solchen Kleidung gesehen. Daher nahm man an, den jungen Willems letztlich doch noch gefunden zu haben. Dennoch gibt es genügend Leute in Morley und Umgebung, die davon überzeugt sind, der Bub, den die Willems in ihrer seltsamen Religion erzogen haben, streife noch immer in den Bergen umher und suche nach seinen Eltern. Sie sagen, manchmal ließe er sich auf einem Pferdekarren oder in einem Auto mitnehmen oder ginge zu Fuß neben einem Wanderer her. Immer wolle er zurück nach Manderloo, zu Vater und Mutter. Aber niemand, der gescheit ist, geht an diesen verhexten Ort. Höchstens ein Fremder, der nichts davon weiß

Der Alte sah mich an, als warte er auf eine Antwort. Doch was sollte ich schon sagen? Dass ich mich unwohl fühlte, während ich ihm lauschte? Dass ich froh wäre, ich hätte mir seine Geschichte nicht angehört?

Okay, sagte ich abweisend zu ihm, ich muß jetzt losfahren. Es ist schon spät.

Der Alte drehte sich um und ich startete. Ich wollte gerade auf die Straße hinausfahren, da klopfte er noch einmal an das Seitenfenster: Hat er Sie bezahlt? Haben sie irgendwas von dem Jungen gekriegt?

Ja, sagte ich.

Zeigen Sie's mal. Ich zeigte ihm die Kupfermünze.

Sie werden viel Glück haben in der nächsten Zeit, sagte der Alte, mächtig viel Glück.

Er lachte ein hohes meckerndes Lachen, fuchtelte dazu mit seinen Armen und schlurfte zurück ins Gasthaus.

Frühjahr 1998

Der Alte hat recht behalten. Ich hatte wirklich unverschämt viel Glück in der darauffolgenden Zeit. Kaum zwei Wochen nach dem Abend in Morley stieg Mr. George Fairchild von Fairchild Ltd. in mein Taxi und ließ sich von mir durch Red Oakes chauffieren. Wir kamen ins Gespräch und er bot mir einen Job als Assistent der Geschäftsleitung in seiner Firma an. Ich sagte sofort zu. In der Firma begegnete ich seiner Sekretärin, der schönen, klugen Samantha Miller. Es funkte sofort zwischen uns. Drei Wochen nach unserer ersten Begegnung bezogen wir zusammen eine Wohnung. Fünf Monate später heirateten wir und kauften ein schmuckes Haus mit einem großen Garten am Stadtrand von Red Oakes. Seit unser Sohn Benny vor elf Monaten geboren wurde, ein süßer Blondschopf mit tiefschwarzen Augen, ist unser Glück einfach vollkommen.

Heute abend kam ich früher als gewöhnlich nach Hause. Samantha hantierte in der Küche und bereitete das Abendessen. Ich hörte sie mit den Töpfen klappern. Ich legte Mantel und Tasche in der Garderobe ab und ging hinüber in Bennys Zimmer. Das Baby stand auf seinen winzigen krummen Beinchen, die kleinen Fäuste um die Gitterstäbe des Laufstalles gekrallt und quiekte vergnügt, als es mich entdeckte.

Hallo Benny, sagte ich glücklich, wie geht's dir denn heute so?

Das Baby sah mich mit seinen großen, glänzenden Augen an. Es ließ das Gitter los und streckte mir sehnsüchtig seine Ärmchen entgegen. Hätte ich ihm doch nur ein Spielzeug mitgebracht! Stattdessen hielt ich ihm die Kupfermünze hin, die ich seit Manderloo ständig bei mir trug. Das Baby grapschte danach und fiel auf den Po. Völlig in sich versunken drehte es die Münze in seinen winzigen Händen hin und her, hin und her, als begutachte es Sonne und Weizenähre, Vollmond und Doppelhelix. Ich schaute fasziniert zu. Ein kühler Wind fegte durchs Zimmer.

Gib Papa die Münze zurück, Benny, bat ich nach einer Weile und streckte ihm meinen Handteller hin. Das Baby sah mich einen Moment lang seltsam eindringlich an. Dann kroch es, die Kupfermünze fest in seiner kleinen Faust, auf mich zu und streckte mir aufs neue seine Arme entgegen.

Jorrie Papa Arm, sagte es. Und noch einmal:

Jorrie Papa Arm.

Es traf mich bis ins Mark! Denn Bennys Stimme klang dabei pfeifend wie Sturm, der durchs Unterholz rast, knarrend wie das Brechen von großen Ästen, dazwischen wie das Schaben kleiner Tiere, die sich aus der Tiefe der Erde heraus ans Tageslicht graben. Ich hörte es und ich fror.

Jorrie Papa Arm... bettelte das Baby. Widerwillig nahm ich es in die Arme. Es schmiegte sich an meine Brust und in der Tiefe seiner schwarzen Augen tanzten winzige blaue Flammen.

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Petra Koch

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