Buchstabensuppe

Es war einmal ein armer Junge, der hieß Frieder Jennings und war acht Jahre alt. Er ging schon zur Schule in die zweite Klasse, aber das Lernen machte ihm überhaupt keinen Spaß. Er fand den Unterricht öde, war unaufmerksam und wollte lieber spielen. Das fand er viel schöner und spannender als das Einmaleins oder lesen zu lernen. Vor allem die Buchstaben machten ihm zu schaffen. Sie blieben einfach nicht in seinem Kopf und ehrlich, es war ihm auch egal.

Eines Tages begleitete er seine Eltern zum Einkaufen in den Supermarkt, weil seine Mutter zu Mittag Spaghetti mit Tomatensoße kochen wollte. Während die Mutter überlegte, welche Spaghetti sie mitnehmen sollte, entdeckte Frieder im Regal die Buchstabennudeln. Er konnte deutlich durch eine Folie auf der Vorderseite der Packungen viele kleine Teigbuchstaben sehen. Buchstaben, sagte Frieder ganz erstaunt zu sich selbst und schaute sie sich genauer an. Frieder ist schlau und er hatte auch gleich eine Idee: Wenn ich ab morgen jeden Tag Buchstabensuppe esse, überlegte er sich, kann ich schon bald lesen und muss mich nicht mal dafür anstrengen. Außerdem schmeckt es auch noch gut. Und er bettelte so lange, bis seine Mutter die Buchstabennudeln in den Einkaufswagen legte. Er holte noch drei Packungen aus dem Regal und als der Vater mahnend sagte: Was soll das Frieder, stelle sie sofort wieder zurück, da antwortete Frieder, ich will ab morgen Buchstabensuppe essen, jeden Tag.

Du spinnst Frieder, sagte die Mutter, leg sie zurück. Aber Frieder stampfte mit dem Fuß auf und wurde sehr bockig, deswegen gaben die Eltern ausnahmsweise nach und kauften die Buchstabennudeln.

Frieder aß nun jeden Mittag nach der Schule einen Teller Suppe, manchmal auch zwei, ganze vier Wochen lang. Er schaufelte die Teigbuchstaben in sich hinein, aber die purzelten in seinem Magen nur hin und her und halfen Frieder überhaupt nicht. Denn jedes Mal wenn er in der Schulstunde sein Lesebuch aufschlug, grinsten ihn die gedruckten Buchstaben an als wollten sie sagen: So leicht machen wir es dir nicht, Frieder. Wir Buchstaben wollen gelernt sein, nicht gegessen.

Wie gesagt, vier Wochen waren schon um und der Leseerfolg ließ auf sich warten. Es war Mittwochnachmittag. Frieder war zum Spielplatz gegangen und grub gerade ein Loch im Sand, weil er einen Brunnen bauen wollte. Am Vormittag hatte es geregnet und Frieder war ganz alleine da. Er war so ins Buddeln vertieft, dass er den alten Mann, der von der Kletterwand her auf ihn zukam, erst bemerkte, als der neben ihm stand. Der Mann war ordentlich gekleidet, hatte graue Haare, einen kurzen weißen Bart und viele Falten im Gesicht und er fragte freundlich: Na Frieder, hat dir die Buchstabensuppe geholfen? Kannst du nun lesen?

Bis jetzt nicht, sagte Frieder, war wohl noch zu wenig Suppe.

Soso, nickte der Mann, bist du sicher, dass die Methode klappt?

Wird schon, sagte Frieder, wirst sehen.

Frieder, Frieder, sagte der Mann, ich glaube, du machst dir da was vor. Ich habe noch nie gehört, dass einer selbst mit tausend Tellern Buchstabensuppe Lesen gelernt hätte, auf der ganzen Welt nicht.

Ich schon, antwortete Frieder trotzig, du kannst das gar nicht wissen.

Oh doch, das kann ich, sagte der alte Mann, ich kenne dich besser als jeder andere, deshalb sage ich dir, Buchstabensuppe bringt gar nichts. Rechnen und Lesen muss man richtig lernen aus Büchern, das ist sehr wichtig. Alles Wissen kommt aus Büchern. Der alte Mann hatte ein dünnes blaues Buch in der Hand, das schlug er auf. Er schaute hinein und lächelte.

Aus diesem da? fragte Frieder und zeigte auf das blaue Buch.

Nein, sagte der alte Mann, das ist mein Notizbuch. Darin schreibe ich immer alles auf was ich mir merken will.

Warum soll ich ihnen glauben, dass Buchstabensuppe nicht hilft, sagte Frieder und machte das Brunnenloch größer, ich kenne sie nicht und weiß nicht mal ihren Namen.

Oh, entschuldige, sagte er alte Mann, ich habe vergessen mich vorzustellen. Ich bin Frieder Jennings.

Ich heiße auch Frieder Jennings, sagte Frieder, ich hab dich hier noch nie gesehen, wo kommst du her?

Du würdest es mir nicht glauben, sagte der alte Mann, und eigentlich dürfte ich es dir auch nicht sagen, aber ich verrate es dir trotzdem: Ich komme aus der Zukunft.

Das ist doof, sagte Frieder. Zeitreisen gibt's nur im Film, nicht wirklich.

Warum Frieder das sagte? Nun er hatte sich vergangenen Sonntagabend, als er schlafen sollte, aus seinem Zimmer geschlichen, und ohne dass seine Eltern es merkten, vom Flur aus heimlich den Anfang eines Films mit angesehen, in dem ein Mann eine Zeitmaschine gebaut hatte und damit in die Zukunft reiste.

Ich weiß, dass das verrückt klingt, und heute ist das auch noch nicht möglich, aber da wo ich herkomme, in meiner Zukunft, da kann man das, Frieder, antwortete der alte Mann. Er notierte etwas in seinem Buch und klappte es dann zu.

Echt? fragte Frieder erstaunt. Dann kannst du zu den Dinos reisen oder zu den Wikingern?

Wenn ich das wollte könnte ich, sagte der alte Frieder Jennings.

Oder die Indianer in Amerika besuchen?

Ja, auch das.

Frieder fragte das, weil er Dinos mochte, er hatte eine ganze Menge davon auf der Fensterbank in seinem Zimmer stehen. Außerdem schaute er sich im Kinderkanal immer die Geschichten von einem kleinen Wikinger und einem Indianerjungen an. Er verpasste keine Sendung.

Zeitreisen finde ich toll, sagte Frieder, wer hat die Zeitreisemaschine erfunden?

Das darf ich dir nicht sagen, lächelte der alte Frieder Jennings, vielleicht warst du es, wenn du älter bist oder jemand anderes, in jedem Fall aber war es jemand, der sehr gut lesen und schreiben und rechnen kann.

Mal sehen, sagte Frieder, vielleicht werde ich sie bauen, weißt Du, immer Brunnen bauen ist blöd, und er begann wieder mit den Händen Sand aus seinem Loch zu schaufeln.

Na dann ist ja alles in Ordnung, sagte der alte Frieder Jennings. Aber bevor du damit anfängst, musst du richtig gut lernen in der Schule, sonst machst du womöglich einen Fehler und die Zeitmaschine funktioniert nicht richtig.

Geht klar, sagte Frieder, aber jetzt lass mich, ich will meinen Brunnen fertig bauen.

Die Idee mit der Zeitreisemaschine ging Frieder nicht mehr aus dem Kopf. Immer wenn er vor dem Fernseher saß, wünschte er sich, er könnte bei den Wikingern sein oder bei den Indianern, oder einfach irgendwo früher, um zu sehen wie die Menschen damals lebten.

Wenn ich groß bin, baue ich mir eine Zeitmaschine, dachte er und malte schon mal auf dem Papier, wie sie aussehen sollte. Weil der alte Frieder Jennings aber gesagt hatte, dass das Zeitmaschinenbauen ohne Lernen nicht funktionieren würde, passte Frieder jetzt im Unterricht gut auf, vor allem beim Lesen und siehe da, bald bildeten sich aus den Buchstaben im Lesebuch Wörter und aus den Wörtern Sätze und richtige Geschichten. In seinem Zeugnis gab es am Schuljahresende bessere Noten und ab der dritten Klasse machte ihm das Lernen sogar Freude. Frieder war auf dem besten Weg, seine Zeitmaschine irgendwann fehlerfrei hinzukriegen und Buchstabensuppe aß er jetzt nur noch ganz selten.

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Petra Koch

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