Die Grosse Chance

Es war ein heißer Tag. Schon seit dem frühen Morgen brannte die Sonne vom wolkenlos blauen Himmel. Die Straßen des kleinen südmexikanischen Städtchens waren in der Mittagshitze menschenleer, nur eine getigerte Katze saß da, leckte sich die Pfoten und blinzelte träge ins Licht. Man müsste auch ein wenig ausruhen können, dachte Martinez, der tagaus, tagein mit seinem mit Möbeln beladenen Eselskarren durch die Straßen des Marktfleckens zog. Eine halbe Stunde noch und wir werden zuhause sein.

Diese Möbeltransporte waren kein einträgliches Geschäft, aber an Tagen wie heute gaben seine Kunden ein gutes Trinkgeld. Zehn bis zwölf Pesos brachte er dann heim zu seiner Frau und den vier kleinen Kindern, und die Plackerei hatte sich gelohnt. Das Eselchen trottete mit gesenktem Kopf neben Martinez her. Seine Füße hinterließen lange Spuren im Staub. Ein leiser Wind trieb Papierfetzen vor sich durch den Rinnstein. Einen Augenblick lang blieb Martinez stehen, wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und da sah er es: Genau vor seinen Füßen, fast verdeckt vom Unrat, lag ein eigenartiger, glitzernder Stein. Er war vollkommen farblos, so groß wie Martinez kleiner Fingernagel und das Licht der Mittagssonne brach sich tausendfach in ihm. Martinez bückte sich, hob den Stein auf, putzte ihn am Ärmel seiner schäbigen blauen Jacke blank, betrachtete ihn von allen Seiten und schon ihn dann kopfschüttelnd in seine Hosentasche.Das ist vielleicht ein Diamant, dachte Martinez, ein richtiger Edelstein und sehr wertvoll. Ich sollte ihn zur Polizei tragen. Doch es war so heiß, er war hungrig und die Polizeistation lag am entgegengesetzten Ende seines Weges. Morgen, beschloss er, morgen werde ich den Stein abgeben und setzte seinen Weg fort.

Früh am nächsten Morgen spannte Martinez den Esel vor seinen Karren und machte sich wieder auf den Weg durch die Stadt. Als er am Marktplatz vorüber kam, hörte er die laute Stimme des Zeitungsjungen die neuesten Nachrichten weithin über den Platz rufen: Wertvoller Diamant verloren, rief der Junge, tausend Pesos für den Finder.

Martinez blieb stehen. Er fühlte, wie er zu schwitzen begann. Tausend Pesos, was konnte man sich alles kaufen für tausend Pesos! Den Himmel konnte man sich kaufen oder doch wenigstens einen kleinen Laster. Zu mühsam war der Möbeltransport mit dem Karren. Tausend Pesos. Und er, Martinez hatte den Diamanten gefunden. Große Freude überwältigte ihn und er trieb das Eselchen an. Wie leicht war auf einmal die Arbeit, wie leicht. Tausend Pesos, tausend Pesos, sang es in seinem Kopf und in seinem Herzen.

Am Abend, als die Frau und die Kinder schliefen, stieg Martinez leise aus seinem Bett, zündete eine Kerze an und holte den Diamanten aus seiner Hosentasche. Er legte ihn vor sich auf den Tisch, sah ihn lange an und dachte nach. Wenn jemand tausend Pesos geben wollte, um den Diamanten wiederzubekommen, musste er viel, viel mehr wert sein. Vielleicht würde es nach einer oder zwei Wochen sogar zweitausend Pesos Finderlohn geben. Für zweitausend Pesos und die gesparten vierzig unter der Matratze könnte er sich den blauen Lieferwagen aus der Werkstatt im Norden der Stadt kaufen. Ich werde den Diamanten noch einen Tag behalten, dachte Martinez, und steckte ihn in das unansehnliche Lederbeutelchen, das er stets um den Hals trug. Doch als er am nächsten Tag von weitem die Polizeistation sah, wurde er in seinem Entschluss wieder wankelmütig. Noch einen Tag will ich den Diamanten behalten, ihn noch einmal ansehen, heute Abend. Es weiß ja niemand, dass ich ihn gefunden habe. Und trenne ich mich morgen von ihm, so ist das auch noch früh genug. Und dabei blieb es. Drei, vier Tage vergingen und noch immer trug Martinez den Stein in seinem Beutelchen. Jeden Tag kaufte er sich nun eine Zeitung und täglich sprangen ihm die dicken Lettern in die Augen: Tausend Pesos für den Finder. Da lächelte Martinez, strich heimlich über seinen Schatz und dachte: Morgen, morgen früh. Jeden Abend betrachtete er den Diamanten heimlich bei Kerzenschein und bald konnte er sich nicht mehr vorstellen, dass er ihn jemals hergeben solle. Nie, nie mehr in seinem Leben würde er je wieder etwas so wunderbares besitzen. Und die tausend Pesos schienen ihm nicht mehr so verlockend wie am ersten Tag. Als nach einer Woche die Anzeige in der Zeitung einer anderen Platz machte, nickte Martinez und war zufrieden. Mein bleibt der Diamant, dachte er. Ich werde ihn behalten und damit war die Sache endgültig entschieden.

Martinez war ein sehr tüchtiger und zielstrebiger Mann. Er konnte ein wenig lesen und schreiben und eines Tages sagte er zu seiner Frau, er wolle sich nun den alten blauen Lieferwagen kaufen, damit er das alte Eselchen nicht mehr führen müsse. Zu sich selbst aber sagte er: Ich bin nun ein reicher Mann, es schickt sich nicht mehr für mich mit Karren und Esel Möbel zu transportieren. Die gesparten Pesos reichen für die Anzahlung aus, fünfzig Pesos im Monat werde ich dem Schrotthändler bezahlen können und wenn irgendetwas schief geht, verkaufe ich den Diamanten. Er kaufte also den klapprigen blauen Lieferwagen, flickte ihn so gut es ging und freute sich darüber wie ein Kind. Stolz lächelnd saß er am Steuer, wenn er an den Nachbarn vorüber fuhr. Nun konnte er Tag für Tag doppelt so viele Transporte fahren wie mit dem Eselchen und die Pesos mehrten sich. Heiter und zuversichtlich war Martinez geworden und der Diamant in seinem Beutel wärmte sein Herz. Und da er nicht nur klug, sondern auch sehr vorsichtig war, hatte er keinem Menschen von seinem Geheimnis erzählt.

Drei Jahre vergingen, da ging das Lastauto mitten in der Stadt kaputt und Martinez beschloss, ein größeres zu kaufen, damit es noch mehr Pesos einbrächte. Der Ehrgeiz packte ihn. Ich kann es riskieren dachte er, ich bin reich. Ich habe einen Schatz. Und werden die Schulden zu viele, verkaufe ich den Diamanten. Sicher ist er gute zwanzigtausend Pesos wert.

Die Jahre gingen ins Land. Die vier Kinder wurden erwachsen und als der älteste Sohn gelernt hatte ein Auto zu steuern, kaufte Martinez ein zweites dazu. Er war jetzt schon recht wohlhabend und angesehen und die Menschen grüßten ihn freundlich beim Vorübergehen. Längst war er aus einer Hütte am Stadtrand in eine hübsche Wohnung am Marktplatz gezogen. Damit war sein zweiter großer Traum in Erfüllung gegangen. Und immer noch ruhte der Diamant in Martinez Beutelchen, ja manchmal vergaß er ihn sogar. Besser, dachte Martinez in stillen Stunden, kann es mir gar nicht gehen. Ich habe alles erreicht was ich wollte. Es ist ein Wunder. In dieser ganzen Zeit aber war Martinez trotz seines Reichtums immer der Gleiche geblieben, freundlich, bescheiden und nachsichtig mit denen, die er kannte und liebte.

Als Martinez sechzig Jahre alt geworden war, besaß er vier Möbelwagen, eine Lagerhalle und eine Reparaturwerkstatt. Zwei seiner Söhne arbeiteten mit ihm in seiner Firma, denn das hatte er nun: eine Transportfirma, die weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt war. Vielleicht würde Martinez demnächst sogar zum Bürgermeister gewählt werden, es wäre die Krönung eines Lebens.

Martinez wohnte mittlerweile mit seiner ganzen Familie in einem schönen weißgetünchten von blühender Bougainvillea umrankten Haus, inmitten eines großen Grundstücks. Er saß oft im Garten und spielte mit einen Enkelkindern und wenn er allein war und niemand zusah, holte er den sorgsam gehüteten Schatz aus dem Lederbeutel und betrachtete ihn in der hohlen Hand. Wenn ich im Herbst die Wahl zum Bürgermeister gewinne, sagte er an einem Sommerabend sinnend zu dem Stein, dann brauchte ich Dich nicht mehr. Gonzales, der Goldschmied, wird eine wunderschöne Fassung für dich machen und ich werde dich Maria meiner Frau schenken.

Am Tage nach der gewonnenen Wahl betrat Martinez um die Mittagszeit das einzige Juweliergeschäft der kleinen mexikanischen Stadt, holte seinen Schatz aus dem Beutel, legte ihn auf die Ladentheke und sagte: Mach mir für diesen Stein eine wunderschöne Fassung, Gonzales. Maria soll ihn dann an einer goldenen Kette um den Hals tragen. Und Martinez lächelte dabei.

Gonzales nahm den Diamanten, holte eine Lupe und besah ihn sich lange. Schon wurde Martinez ungeduldig, da räusperte sich der Freund und meinte: Nimm es mir nicht übel, Martinez, aber dieser Stein ist nur eine Imitation und eine schlechte dazu, keine fünfzig Pesos wert. Von welchem Gauner hast du dich übers Ohr hauen lassen?

Was sagst Du da, Gonzales, flüsterte Martinez, der Stein ist falsch? Gonzales nickte und Martinez hatte für einen Augenblick das Gefühl, sein Herz bliebe ihm stehen. Die Wände des Ladens begannen sich um ihn zu drehen, er bekam auf einmal keine Luft mehr. Der Stein in Gonzales Hand aber schien größer und größer zu werden. Falsch, stotterte Martinez zweifelnd, falsch?

Es war unfassbar. Heilige Jungfrau von Guadeloupe, wie ist es nur möglich, dachte er, dass ich mich bei all meinen Unternehmungen auf ihn verlassen habe, auf einen wertlosen Gegenstand! Dieser Gedanke traf Martinez wie ein Schock, seine Beine zitterten. Gonzales griff unter der Ladentheke nach der Tequila-Flasche und einem Glas und schenkt es randvoll ein. Trink einen Schluck auf den Schrecken, mein Freund, lachte er. Er klopfte Martinez beruhigend auf die Schulter. Martinez trank und die Wände hörte auf sich zu drehen. Sein Kopf wurde wieder klar.

Gonzales gab ihm den Diamanten zurück. Martinez steckte ihn in das Lederbeutelchen und begann plötzlich zu lachen. Zuerst leise und verhalten und dann immer lauter. Er konnte einfach nicht mehr damit aufhören. Lachend drehte er sich um, rannte zur Tür hinaus und durch die halbe Stadt und die Leute blieben stehen und sahen ihm verwundert nach.

Martinez lachte noch, als er am Tor seines Grundstücks ankam und die lange kiesbestreute Auffahrt hinauf lief. Er sah seine Enkelkinder auf dem Rasen spielen, lief zu ihnen hinüber, ließ sich neben sie ins Gras fallen und schloss die beiden atemlos in die Arme. Kommt, kommt her meine Kleinen, sagte er, lasst euch eine ganz besondere Geschichte erzählen und teilt meine Freude mit mir. Denn heute bin ich der glücklichste Mann in Mexiko, nein besser noch, der glücklichste Mann der ganzen Welt.

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Petra Koch

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