Das Spiel des Lebens

Ein alter Mann lag auf seinem Sterbebett und dachte über sein Leben nach. Ich habe viel erreicht, sagte er sich, ich habe schon als Kind schwer gearbeitet, habe mir eine gut gehende Firma mit sechsundvierzig Mitarbeitern aufgebaut, ich besitze ein Sommerhaus auf Sylt, ein eigenes kleines Flugzeug und eine Luxusjacht, zwei Ex-Ehefrauen, fünf Kinder, drei Enkel und eine Urenkelin. Unter dem Strich stimmt die Bilanz meines Lebens. Ich habe mir selten Vergnügen gegönnt, nie etwas nutzloses getan, manchen Konkurrenten ausgestochen, mir Feinde vom Leib gehalten. Ja, ich bin ein erfolgreicher Mann geworden. Warum empfinde ich dann kein Glücksgefühl darüber? Was habe ich falsch gemacht?

Zahlreiche Freunde kamen um sich von ihm zu verabschieden und er fragte sie: Sagt mir, was ist euch das Wichtigste im Leben? Denn er hoffte in ihren Antworten erkennen zu können, welchen Fehler er gemacht hatte und warum sein Leben zwar arbeitsreich aber freudlos verlaufen war.

Der Architekt sagte: Häuser zu bauen, in denen die Menschen sich wohlfühlen, das ist das Wichtigste.

Der Arzt sagte: Menschen vor Krankheiten schützen oder sie wieder gesund machen, das ist das Wichtigste.

Der Börsenmakler sagte: Gewinnmaximierung ist das Wichtigste, sie garantiert mir einen exklusiven Lebensstil.

Ehefrau Nummer drei sagte: Du mein Schatz bist das Wichtigste und dachte dabei an ihren jungen Liebhaber.

Der Maler sagte: Bilder malen, die in den großen Galerien bestaunt werden, das ist mir wichtig, alter Freund.

Der Bildhauer sagte: Die vollkommene Skulptur erschaffen, das ist mir wichtig.

Die Sekretärin sagte: Im Büro alles im Griff zu haben Chef, das ist das Wichtigste.

Es kamen viele Freunde und Geschäftspartner an sein Sterbebett und jeder gab ihm eine andere, doch ähnliche Antwort.

Als letztes kam seine Urenkelin. Sie war dreizehn Jahre alt.

Er fragte auch sie: Sag mir Kind, was glaubst du, ist das Wichtigste im Leben?

Das Mädchen dachte kurz nach, dann nahm sie die Hand ihres Urgroßvaters und sagte: Spielen, Uropa, spielen ist das Wichtigste im Leben.

Du hast recht, sagte der alte Mann, in deinem Alter hätte ich dieselbe Antwort gegeben.

Aber das Mädchen sagte: Nein, Uropa, denke nach. Das Leben ist doch das größte und wichtigste Spiel, das wir spielen können. Man verliert, man gewinnt und verliert wieder. Es ist wie Mensch-ärgere-dich-nicht. Wenn man es so unbeschwert spielt wie ein Kind, ist es nicht wichtig, wie die Würfel fallen. Man spielt es im Vertrauen darauf, dass man gewinnt und wenn es nicht so ist, fängt man von vorne an ohne unglücklich zu sein.

Du hast so recht Kind, seufzte der alte Mann, so habe ich es noch nie betrachtet. Für mich war das Leben ein Kampf. Ich habe alles zu verbissen gesehen, ich habe nie gespielt.

Und er dachte für sich, als das Kind gegangen war: Meine Urenkelin hat recht, hätte ich das Leben nicht als Kampf gesehen sondern als ein großes Spiel, ich wäre nicht nur erfolgreich sondern vielleicht sogar glücklich geworden. Nach dieser Erkenntnis schloss er die Augen und starb.

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Petra Koch 08/2011

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